Bochum. Tief im Westen, in Bochum, beschnuppern sich erstmals in NRW die Spitze der Wagenknecht-Partei und Unterstützer: Was sagen die?
Ein gemischtes Publikum sitzt und steht im „Jahrhunderthaus“, über dem, vom Wind zerzaust, die rote Fahne der IG Metall flattert. Etliche Ältere sind im Saal, aber auch Frauen und Männer in den 20-ern, ein paar Anzugträger, viele in Freizeitkleidung, zwei tragen Hut.
Die Damen und Herren sind „Unterstützer“ des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW). Das bedeutet, sie sind weder in der Partei noch draußen, sondern irgendwo dazwischen. Sozusagen Anwärter auf die Mitgliedschaft.
Bündnis Sahra Wagenknecht: 4000 Unterstützern stehen bisher 80 Mitglieder gegenüber
Das BSW hat drei Monate nach seiner Gründung viel mehr Bewerber als freie Plätze. Rund 4000 Unterstützer soll es inzwischen in NRW geben, sagt BSW-Vize-Vorsitzender Amid Rabieh, der den Auftrag hat, bis zum Herbst einen Landesverband zu gründen. Den 4000 Interessierten sollen aktuell 80 „echte“ BSW-Mitglieder in NRW gegenüberstehen. Der Bochumer Rabieh sagt, 800 Menschen hätten sich fürs erste „Unterstützertreffen“ in NRW beworben. Am Ende dürfen nur 300 ins Gewerkschaftshaus, dann ist es voll. Es ist das erste große „Beschnuppern“ zwischen der Parteispitze und ihren Mitstreitern im Westen.
BSW-Generalsekretär Christian Leye, früher Chef der Linken in NRW und seit vielen Jahren treuer Diener Wagenknechts, bittet um Verständnis dafür, dass das BSW nur „kontrolliert“ wachsen könne. „Junge Parteien gehen immer durch eine Phase der Unsicherheit. Wir müssen die Kinderkrankheiten junger Parteien überspringen und langsamer wachsen als wir eigentlich wollen“, sagt der Duisburger Bundestagsabgeordnete. Die Wagenknecht-Partei habe keinen „Welpenschutz“ und „nur einen Schuss frei“. Der müsse sitzen.
Bündnis Sahra Wagenknecht: Die Furcht vor dem Kontrollverlust
Der Gedanke dahinter: Karrieristen, Glücksritter und andere Unberechenbare sollen draußen bleiben. Nichts fürchtet die Parteispitze um Sahra Wagenknecht mehr als den Kontrollverlust. Mahnendes Beispiel für die Tendenz junger Parteien, sich zu häuten und abzudriften, ist die AfD. Außerdem verfügt die frisch gegründete Wagenknecht-Partei noch nicht über Strukturen, die eine Aufnahme vieler Mitglieder möglich machen würde.
Harald Stengl (76) aus Werne sitzt mitten unter den Unterstützern. Er war mal Bautechniker, nennt sich einen Sozialisten, hat aber nie Parteipolitik gemacht. Die Kurzzeit-Partei „Demokratische Sozialisten“, 1982 unter dem Eindruck des Protestes gegen den Nato-Doppelbeschluss gegründet, hatte ihm gefallen.
Vor Stengl liegt das Brecht-Gedicht „Lob des Revolutionärs“. Erste Zeile: „Wenn die Unterdrückung zunimmt…“ Das BSW, findet Stengl, „ergreift Partei für die Schwächeren“. Auch der Krieg im Osten Europas treibt den Senior um: „In meinem Leben hat es noch nie eine so kritische Situation gegeben.“
Prof. Richard Lackes (65) will ebenfalls bei der Wagenknecht-Partei mitmachen. Er ist Lehrstuhlinhaber für Wirtschaftsinformatik an der TU Dortmund. „Man muss was tun“, sagt er. Die Schere zwischen Arm und Reich gehe weiter auseinander. Lackes hat auch was gegen „ungezügelte Migration“ und meint, in Deutschland werde die Meinungsfreiheit eingeschränkt. Damit ist er mitten in jener Nische, die das BSW in kommenden Wahlkämpfen besetzen möchte.
Bündnis Sahra Wagenknecht: Misstrauen gegenüber Superreichen, Verständnis für Russland
Die Rhetorik der Parteispitze ist in Bochum jedenfalls von alten linken Überzeugungen durchtränkt. Das Thema Zuwanderung spart sie zumindest in der ersten Stunde des Treffens, als die Presse zuhören darf, aus. Dafür verteilt sie in großen Portionen Warnungen vor gierigen Superreichen, die sogar mit dem Krieg Profite machten. Das Motto: Die „da oben“ gegen die „da unten“. Während die Schlangen vor den Tafeln immer länger würden, eile der deutsche Aktienindex Dax von Rekord zu Rekord. Eine Kassiererin von Lidl müsse 700.000 Jahre lang arbeiten, um zu verdienen, was ihr Konzernchef zuletzt in Krisenzeiten an Gewinnen abgeschöpft habe.
Den Nerv des Publikums treffen die Redner immer dann, wenn es um Krieg und Rüstung geht. Der Saal ist voller Friedensbewegter. Angesichts der Tatsache, dass Putins Armee seit mehr als zwei Jahren einen brutalen, menschenverachtenden Angriffskrieg gegen die Ukraine führt und die Zivilbevölkerung mit Raketen und Drohnen terrorisiert, irritiert die Perspektive des BSW. Das alte Feindschema der linken Szene aus den 1980-er Jahren hat in der Wagenknecht-Partei die Zeiten überdauert. Denn sie arbeitet sich vor allem an der Nato, am Westen, an der EU ab und nicht am Aggressor Putin. Russlands Angriff auf die Ukraine habe „natürlich“ etwas mit der Nato-Osterweiterung zu tun, heißt es. Das Übel und die Unvernunft vermuten sie eher in Berlin, Brüssel und Washington.
„Als Reaktion auf den Einmarsch von Russland in die Ukraine hat auch die Bundesregierung einen Wirtschaftskrieg mit Russland begonnen. Russland ist heute das am meisten sanktionierte Land der Welt“, sagt zum Beispiel Christian Leye. Da müsse man sich doch nicht wundern, wenn Russland den Gashahn zudrehe.
Wo war Wagenknecht?
Sahra Wagenknecht war in Bochum im Gegensatz zum bundesweit ersten BSW-Unterstützertreffen vor zwei Wochen in Erfurt nicht persönlich dabei. Die Unterstützer mussten sich mit einem Video der wichtigsten Person im BSW begnügen.
In Thüringen wird in Kürze gewählt, der dortige Landesverband ist daher längst gegründet, der in Sachsen auch. In NRW nimmt sich das BSW noch etwas Zeit. Spätestens im vierten Quartal soll der NRW-Landesverband an den Start gehen. 2025 werde man an Rhein und Ruhr für alle Wahlkämpfe bereit sein, sagt Amid Rabieh voraus.
Bündnis Sahra Wagenknecht: Ex-SPD-Mann Thomas Geisel zieht über seine frühere Partei her
Der frühere Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel, heute BSW-Spitzenkandidat für die Europawahl, zelebriert in Bochum regelrecht den Bruch mit seiner Ex-Partei, der SPD. Er zitiert mit Helmut Schmidt („Lieber 10.000 Stunden verhandeln als eine Minute schießen“) und Johannes Rau („Wir sind der Anwalt der kleinen Leute“) zwei SPD-Ikonen, um der heutigen Sozialdemokratie einen Verrat an der Friedens- und Sozialpolitik zu unterstellen. Dass in Schmidts Originalzitat von 100 Stunden die Rede war, ist nicht so wichtig in der ersten Stunde des Unterstützertreffens in Bochum.
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