Gaza/Berlin. Immer wieder entwischt Yahya Sinwar den Israelis. Nun hofft Premier Netanjahu auf einen Militärschlag in Rafah – mit hohen Risiken.
Der Mann auf dem Video ist nur von hinten zu sehen. Er ist mittelgroß, schlank und läuft leicht nach links gebeugt. Mit der linken Hand trägt er eine Tasche. Er hat gerade ein Tor mit Eisengitter passiert.
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Die israelische Armee sagt: Das ist Yahya Sinwar, Chef der islamistischen Hamas im Gazastreifen und Drahtzieher der Terroranschläge vom 7. Oktober. Der Clip wurde am 13. Februar vom israelischen Militär freigegeben. Er soll Sinwar am 10. Oktober, drei Tage nach dem Massaker, in einem Tunnel unter der Stadt Chan Yunis im Süden des Gazastreifens zeigen. Er wurde angeblich von seiner Frau und seinen Kindern begleitet.
Sinwar ist Israels Staatsfeind Nummer eins. Der Mann mit dem weißen Kurzhaarschnitt wird gejagt wie kein anderes Hamas-Mitglied. Im Dezember hatte es der 61-Jährige geschafft, der israelischen Armee zu entwischen, die ihm dicht auf den Fersen war. Eine Wohnung in einem der Tunnel, die ihm als Unterschlupf diente, wurde damals gefunden und zerstört.
In den Tunneln der Hamas kann Israel Sinwar schwer lokalisieren
Jahrelang hatte die Hamas Zeit, unter dem Gazastreifen Gänge in bis zu 50 Metern Tiefe zu graben. Manche sind so breit, dass Autos hindurchfahren können, um den Nachschub an Waffen und Nahrungsmitteln zu besorgen. Die Tunnel weisen eine Gesamtlänge von 400 bis 500 Kilometern auf und sind offenbar miteinander verbunden.
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In diesem riesigen Labyrinth ist Sinwar nur schwer zu lokalisieren. Er nutzt kein Telefon, das ihn orten könnte. Und er hat bislang kein Video produziert, auf dem zu erkennen wäre, wo er sich befindet.
Israelische Medien berichten hingegen, die Streitkräfte des Landes hätten das aktuelle Versteck Sinwars identifiziert. Doch die Armee greife den Hamas-Führer nicht an, da er sich mit israelischen Geiseln umgebe, schreibt die Zeitung „Israel Hayom“. Die Informationen ändern sich aber offenbar schnell. „Das Problem: Sinwar hält sich nie lange an einem Aufenthaltsort auf und ist permanent in Bewegung. Das lässt den Israelis kaum Zeit, um eine Spezialoperation zu planen“, sagte Hans-Jakob Schindler, Senior Director bei der Berliner Denkfabrik Counter Extremism Project, unserer Redaktion.
Experte: „Ein israelischer Bombenangriff auf Sinwars Versteck ist unwahrscheinlich“
Die Geiseln sind für Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu ein wunder Punkt. Seit Monaten demonstrieren deren Angehörige und fordern, die Regierung müsse alles tun, um die Verschleppten nach Hause zu bringen. Auch eine Waffenruhe und ein Deal mit der Hamas dürften kein Tabu sein.
Die militärischen Optionen zur Befreiung der Geiseln sind allesamt heikel. „Ein israelischer Bombenangriff auf Sinwars Versteck ist unwahrscheinlich, weil dadurch das Leben der Geiseln in Gefahr wäre“, betont der Terrorismusexperte Schindler. „Auch eine Spezialoperation zur Gefangennahme oder Tötung Sinwars ist extrem schwierig, weil das Risiko besteht, dass die Hamas die Geiseln sofort tötet.“
Sinwar, der 1962 im Flüchtlingslager Chan Yunis geboren wurde, wird zudem extrem scharf bewacht. Darüber hinaus verfügt der Mitgründer der Hamas über langjährige Kampferfahrung. Er leitete den gefürchteten internen Geheimdienstapparat für Spionage und Informanten. 1988 wurde Sinwar zu viermal lebenslanger Haft in einem israelischen Gefängnis verurteilt. Er war für schuldig befunden worden, an der Ermordung von zwei israelischen Soldaten und vier Palästinensern beteiligt gewesen zu sein, die der Kollaboration verdächtigt wurden. Während seiner Haft lernte er Hebräisch, das er auch heute noch fast akzentfrei spricht. 2011 kam Sinwar zusammen mit 1026 anderen palästinensischen Gefangenen im Austausch gegen den israelischen Soldaten Gilad Schalit frei.
Netanjahu: Alle Hoffnung auf einen Militärschlag
Obwohl Israels Armee die Hamas bis heute nicht ausschalten konnte, scheint die Zeit gegen die Islamisten zu laufen. „Die Israelis kontrollieren mindestens 80 Prozent des oberirdischen Geländes im Gazastreifen. Die Ausstiegsmöglichkeiten aus dem unterirdischen Tunnelsystem sind dort sehr beschränkt. Man braucht zum Beispiel Luftschächte für die Tunnelbelüftung und Ausstiegsschächte, die groß genug sind, um Waffen und möglicherweise auch Raketenwerfer herauszubringen“, sagte Wolfgang Richter, ehemaliger Bundeswehr-Oberst und Militärexperte am Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik, unserer Redaktion. „Wenn die Logistik oberirdisch zum Erliegen kommt, trifft das auch die Hamas-Kämpfer, die sich im Tunnelsystem versteckt halten.“ Im Süden des Gazastreifens habe die Hamas mehr Möglichkeiten auszuweichen. „Deshalb wollen die Israelis nach Rafah eindringen“, so Richter.
Mehr von Israel-Korrespondentin Maria Sterkl
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Netanjahu ist finster entschlossen, eine Militär-Operation in Rafah zu starten. In der Stadt halten sich rund 1,5 Millionen der insgesamt 2,2 Millionen Bewohner des Gazastreifens auf – aber sehr wahrscheinlich auch die Führung der Hamas mit ihren restlichen Bataillonen, betont die Regierung in Jerusalem. Dafür nimmt der Premier einen Streit mit US-Präsident Joe Biden in Kauf. Die Amerikaner befürchten, dass die Offensive zu viele zivile Opfer mit sich bringt, und pochen auf andere Optionen. Mehr als 31.000 Palästinenser sind im Gaza-Krieg bereits getötet worden.
Netanjahu, dessen Umfragewerte im Keller sind, setzt dennoch alle Hoffnungen auf den Militärschlag. „Die Israelis spekulieren auf das, was ich als ‚Lucky-Punch-Szenario‘ beschreiben würde“, sagte Daniel Gerlach von der Berliner Denkfabrik Candid Foundation unserer Redaktion. „Israels Öffentlichkeit scheint geradezu besessen von der Jagd auf Sinwar. Und Netanjahu braucht ein Siegesbild im Kampf gegen die Hamas.“