Taipeh. Viele Inselbewohner nehmen die Gefahr eines Krieges nicht ernst. In der Zivilgesellschaft wissen sich Aktivisten selbst zu helfen.
Der Bali-Strand am nördlichsten Zipfel Taiwans hat zwar nichts mit der berühmten indonesischen Ferieninsel zu tun, doch pittoresk ist der Landstrich allemal: Vom blauen Himmel strahlt die pralle Vormittagssonne auf den feinkörnigen Sand, im Sekundentakt spülen sanfte Wellen weiße Schaumkronen an Land. Doch die Idylle trügt: Nur wenige Kilometer westlich liegt der internationale Flughafen Taoyuan, ein paar Autominuten dahinter der Hafen von Taipeh. Und keinen Steinwurf entfernt führt die Mündung des Tamsui-Flusses bis ins Zentrum der taiwanischen Hauptstadt. Es gäbe also für Chinas Volksbefreiungsarmee keinen strategisch besseren Ort für eine amphibische Invasion. Als „roter Strand“ wird er deshalb auf Taiwans militärischen Landkarten bezeichnet.
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„Den Begriff habe ich ehrlich gesagt noch nicht gehört. Aber mir ist bewusst: Wenn es zum Angriff kommen sollte, dann wird es hier passieren“, sagt Herr Li. Der 62-Jährige sitzt entspannt vor dem Kofferraum seines Pick-up-Trucks, die Angel tief in den Sand gesteckt, und wartet darauf, dass der nächste Fisch anbeißt.
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Seit seiner Jugend kommt er bereits regelmäßig an den Strand. Nur wenn das Militär seine jährlichen Verteidigungsübungen abhält, wird die Gegend vorübergehend zum Sperrgebiet. Mit seiner rechten Hand zeigt Herr Li auf die dicht bewaldeten Hänge, die sich hinter dem Strand erheben: „Die Militärbunker sind dort versteckt in den Hügeln, man soll sie nicht direkt sehen können.“ Es handelt sich um sogenannte Pillboxen: steinerne Bunker mit kleinen Schießscharten, wie sie bereits von den Briten im Zweiten Weltkrieg errichtet wurden – aus Angst vor einer deutschen Invasion.
Xi Jinping droht: „Nur eine Frage der Zeit, bis Taiwan wiedervereinigt wird“
Seit Jahrzehnten bereits lodert der Konflikt um die demokratisch regierte Insel, die für Peking nichts weiter als eine abtrünnige Provinz ist. Im Wochentakt wiederholt das autoritäre Staatsoberhaupt Xi Jinping, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis Taiwan „wiedervereinigt“ werde – notfalls auch mithilfe militärischen Zwangs.
Dass der Konflikt jedoch längst nicht mehr nur mit Worten ausgetragen wird, zeigte sich vor wenigen Tagen erneut: Taiwans Armee registrierte wiederholt chinesische Überwachungs- und Küstenwachschiffe, die sich bis an die vorgelagerte Insel Kinmen vorwagten – ein Eiland, das zwar zu Taiwan gehört, doch nur drei Kilometer vom chinesischen Festland entfernt liegt.
Seit dort Mitte Februar zwei chinesische Fischer kenterten und ertranken, hat die Volksbefreiungsarmee damit begonnen, eine seit über 30 Jahren respektierte Grenzlinie zu ignorieren. Es gebe keine „verbotenen oder gesperrten Gewässer“, erklärte das Büro für Taiwan-Angelegenheiten kürzlich.
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Geradezu beispielhaft wendet China die sprichwörtliche Salamitaktik an: Scheibe für Scheibe eskaliert es die Lage stets in homöopathischen Dosen, sodass die Verschiebungen des Status quo meist erst aus der Vogelperspektive sichtbar werden. Täglich entsendet die Volksbefreiungsarmee mittlerweile Kriegsflugzeuge, Schiffe und Ballons rund um die demokratisch regierte Insel – so oft, dass dies selbst den großen Nachrichtenagenturen nur mehr selten eine Meldung wert ist. Doch für Taiwans Soldaten wird der Alltag immer zermürbender: Stets in Alarmbereitschaft können sie sich nie sicher sein, ob beim nächsten Einsatz nicht vielleicht doch der Ernstfall droht.
Taiwan: Aktivisten wappnen sich gegen Kriegsgefahr
„Einige Leute denken, ein Krieg ist weit entfernt. Sie denken, es wird nicht passieren, weil es auch in der Vergangenheit nicht dazu gekommen ist. Doch das ist eine Illusion“, sagt Marco Ho, Mitbegründer der Kuma Academy. Der 52-Jährige empfängt im funktional eingerichteten Workshop-Raum in Taipeh, wo jede Woche ganz normale Durchschnittsbürger für den Ernstfall vorbereitet werden – die Kurse reichen vom Anti-Propaganda-Training bis hin zur Erste-Hilfe-Versorgung. Über eine halbe Million Menschen hat die zivilgesellschaftliche Initiative bereits erreicht.
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„Weil China derzeit eigene Probleme hat, wirtschaftlich und in der Gesellschaft, wird es durchaus gefährlicher für Taiwan“, sagt Ho. Denn es könnte natürlich sein, dass das Regime in Peking von den heimischen Missständen ablenken könnte, indem es einen äußeren Konflikt eskaliert – zumal Xi Jinping auch eine Rechtfertigung dafür braucht, warum er als erster chinesischer Staatschef seit Mao Tse-tung für eine dritte Amtszeit an der Macht bleibt. Marco Ho glaubt: „Ein Grund, warum Xi mit dieser Tradition gebrochen hat, ist es, Taiwan zurückzuholen.“
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Die führenden Beobachter halten ein solches Szenario für derzeit unwahrscheinlich. Laut einer Umfrage des Washingtoner Center for Strategic and International Studies glauben nur 27 Prozent der US-Experten und 17 Prozenten der taiwanischen Experten, dass China derzeit eine amphibische Invasion durchführen könnte. Diese ist schließlich militärisch extrem kompliziert – trotz der rasanten Aufrüstung der Volksbefreiungsarmee.
China droht Taiwan: An der Schießanlage üben Kunden für den Ernstfall
Doch im Ernstfall könnte Taiwan wohl nur überleben, wenn die USA in dem Konflikt militärisch direkt eingreifen würden. Bis vor Kurzem verfolgte Washington stets eine strategische Ambiguität, die unter Joe Biden jedoch ziemlich eindeutig geworden ist: So offen wie kein US-Präsident zuvor hat der Demokrat in Interviews gesagt, dass man mit eigenen Truppen die Insel verteidigen würde. In wenigen Monaten könnte jedoch bereits Donald Trump im Weißen Haus sitzen: Ein unberechenbarer Politiker, der von praktisch allen US-Alliierten in Ostasien als unzuverlässiger Partner wahrgenommen wird.
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„Viele in Taiwan sorgen sich zwar um die Situation zwischen Taiwan und China, doch vor allem die jungen Leute sehen es nicht als echte Gefahr an. Denn sie denken, dass die USA ohnehin zu Hilfe kommen werden“, erklärt Friedrich Wang, der einen Militär-Shop in Taipeh betreibt: „Ich denke jedoch, dass wir uns selbst vorbereiten müssen, wenn wir Frieden wollen.“
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Aus diesem Grund hat der mittlerweile pensionierte Oberleutnant den Militärladen in Taipeh eröffnet. An den Wänden hängen Maschinengewehre, in Pappboxen stapeln sich Granaten und schutzsichere Westen. Doch natürlich, so versichert der 47-Jährige mit einem breiten Lächeln, handele es sich lediglich um Softairwaffen. Die Mission von Wang ist indes ernst: Im zweiten Stock gibt es eine Schießanlage, an der Kunden für den Ernstfall üben können. Es brauche schließlich eine zivile Verteidigungsmiliz, sagt der Taiwaner: „Wir müssen besonders die Jugend darüber aufklären, dass es einen Krieg geben kann.“
Spannungen zwischen China und Taiwan: „Natürlich will niemand einen Krieg“
Noch zur Jahrtausendwende dachte Friedrich Wang, dass die zwei Nachbarländer sich friedlich annähern würden. Die sozialen Medien kamen damals in China auf, und mit dem Zugang zu Informationen war auch die Hoffnung auf politische Öffnung verbunden. Doch die rigide Zensur und zunehmende Repressionen haben all dies zunichtegemacht. Seither glaubt der Taiwaner, dass es eine deutliche Botschaft braucht: „Wir müssen laut sein. Und klar sagen: ,Wenn ihr uns angreift, kämpfen wir zurück.‘ Ich will, dass sie es sich zweimal überlegen.“
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Doch im nächsten Moment hält Wang inne: Er habe in seiner erweiterten Familie sowohl Verwandte, die in die USA ausgewandert sind und dort beim Militär sind, als auch chinesische Verwandte in der Volksbefreiungsarmee. „Nun kann es sein, dass beide nach Taiwan kommen, um gegeneinander zu kämpfen“, erzählt er. Und fügt hinzu: „Natürlich will niemand einen Krieg.“