Düsseldorf. Geheimgespräche, Verfahrenstricks: Die Besetzung der Oberverwaltungsgerichts-Spitze ist ein bald zweijähriger Krimi. Eine Rekonstruktion.

Die Besetzung von höchsten Richterämtern ist immer eine sensible Angelegenheit, weil sie sich an der Nahtstelle der Staatsgewalten vollzieht. Die Exekutive (Landesregierung) nominiert Spitzenpersonalien für die Judikative (Gerichtsbarkeit), obwohl letztere Regierungshandeln hinterher unabhängig kontrollieren soll.

Deshalb gibt es in NRW ein klar vorgegebenes Verfahren möglichst objektiver Bestenauslese. Die Fachabteilung des Justizministeriums prüft Bewerbungen und darf sich dabei ausdrücklich nicht an politischen Wünschen oder persönlichen Vorlieben der Landesregierung orientieren. Der Besetzungsvorschlag für das wichtige Präsidentenamt am Oberverwaltungsgericht Münster hat Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) trotz des „Freispruchs“ vom Freitag in den Ruf gebracht, genau dieses demokratische Urprinzip der Unabhängigkeit der Justiz zu missachten. Die Chronik eines Skandals, den NRW so noch nicht erlebt hat:

29. Juni 2022: Limbach wird zum Justizminister ernannt.

30. Juni 2022: Der Abteilungsleiter für Personalangelegenheiten weist den neuen Minister Limbach in einer Art Übergabegespräch auf mehrere offene Besetzungsfragen hin, darunter das zu diesem Zeitpunkt seit 13 Monaten unbesetzte Präsidentenamt beim Oberverwaltungsgericht (OVG). Der von Amtsvorgänger Peter Biesenbach (CDU) am 16. Mai 2022, also einen Tag nach der Landtagswahl, paraphierte Besetzungsvorschlag ist angeblich ungültig. Der Entwurf habe sechs Wochen lang im Ministerbüro gelegen und sei nicht rechtzeitig vom ausgeschiedenen Staatssekretär Dirk Wedel (FDP) paraphiert worden.

1. Juli 2022: Limbach verabschiedet sich für eine Woche in den Urlaub. Vorher verfügt er, dass Biesenbachs Besetzungsvorschlag die Billigung der Hausleitung fehle. Er ist damit erst einmal auf Eis gelegt. Die rund 20-seitige Bestenauslese der Fachabteilung sah vor, dass ein erfahrener Abteilungsleiter für Öffentliches Recht des Justizministeriums Präsident des Oberverwaltungsgerichts werden soll. Ein ebenfalls hochqualifizierter Bewerber vom Bundesverwaltungsgericht sollte knapp das Nachsehen haben. Ein dritter Interessent hatte aufgrund fehlender formaler Voraussetzungen keine Chance.

Mit einem mysteriösen Abendessen fing alles an

20. Juli 2022: Limbach trifft sich mit einer früheren Richterkollegin vom Verwaltungsgericht Düsseldorf, die er duzt und die mit seiner Ehefrau gleichzeitig das Referendariat am Landgericht Bonn absolviert hat, zum Abendessen. Angeblich wollte man nur mal wieder reden, weil einen der Zufall in der Landesregierung zusammengeführt hat. Limbach stellt später klar, dass man sich kenne, „aber wir haben kein Näheverhältnis“. Die Duz-Bekanntschaft leitet heute im Innenministerium die Abteilung für Digitales und Cybersicherheit. Mit der Justiz hat sie schon lange nichts mehr zu tun, denn ab 2011 ließ sich die Ministerialbeamtin für neun Jahre ans Kommissariat der deutschen Bischöfe „ausleihen“. Bei dem Abendessen fragt sie Limbach angeblich überraschend, ob sie sich noch auf die Präsidentenstelle beim OVG bewerben könne, da Biesenbach ja jetzt nicht mehr da sei.

21. Juli 2022: Limbach telefoniert mit dem ebenfalls am OVG-Präsidentenamt interessierten Bundesverwaltungsrichter, der er auch lange kennt. Inhalt: unbekannt.

Ende Juli: Limbach berichtet seinem Abteilungsleiter für Personalangelegenheiten nach dem Abendessen mit seiner Duz-Bekanntschaft aus dem Innenministerium, dass es möglicherweise eine nachträgliche weitere Bewerbung um das Präsidentenamt geben könnte. Der Fachbeamte wendet ein, dass man prüfen müsse, ob die Frau überhaupt noch „in das Verfahren hineingenommen werden kann“, wie er später im Rechtsausschuss des Landtags zu Protokoll geben wird.

Staatskanzleichef Liminski führte immer wieder Gespräche mit den Bewerbern

9. August 2022: Limbachs Duz-Bekanntschaft spricht mit Staatskanzleichef Nathanael Liminski (CDU). Der einflussreiche Liminski wird später im Landtag einräumen, nach seinem Eindruck hätten die Interessenten an dem OVG-Präsidentenamt bei ihm für sich „werben“ wollen. Formal ist er gar nicht zuständig.

24. August 2022: Limbachs Duz-Bekanntschaft spricht mit Justiz-Staatssekretärin Daniela Brückner (Grüne).

NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne, links) musste immer wieder beim Vorsitzenden des Rechtsausschusses im Düsseldorfer Landtag, Werner Pfeil, vorsprechen.
NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne, links) musste immer wieder beim Vorsitzenden des Rechtsausschusses im Düsseldorfer Landtag, Werner Pfeil, vorsprechen. © dpa | Roberto Pfeil

13. September 2022: Die angekündigte Bewerbung von Limbachs Duz-Bekanntschaft um das OVG-Präsidentenamt geht tatsächlich ein. Sie wird zugelassen. Biesenbachs Besetzungsvorschlag hatte schließlich noch nicht die notwendige Zustimmung von Innen- und Finanzministerium, Präsidialrat der Justiz und des Landeskabinetts gefunden.

Anfang September 2022: Der Justiziar der CDU/CSU-Bundestagsgruppe, Ansgar Heveling, meldet sich bei dem an der Stelle interessierten Bundesrichter. Zu diesem Zeitpunkt liegt im OVG-Auswahlverfahren noch keine Dienstbeurteilung der Limbach-Favoritin vor. „Herr Heveling unterrichtete mich, dass man sich in Koalitionskreisen in Düsseldorf wünsche, dass eine Frau OVG-Präsidentin werde. Dies sei vor allen Dingen ein Wunsch der Grünen“, heißt es in später einer „Eidesstattlichen Versicherung“ des Bundesrichters wörtlich. Heveling hatte sich vorher mit Staatskanzleichef Nathanael Liminski (CDU) in der Sache besprochen.

20. September 2022:Limbach spricht mit seinem Abteilungsleiter für Öffentliches Recht, der eigentlich OVG-Präsident werden sollte. Wie das Justizministerium später einräumte, hat Limbach ihn gebeten, „seine Bewerbung nicht weiterzuverfolgen, sondern seine sehr erfolgreiche Arbeit als Abteilungsleiter“ im Ministerium fortzuführen. Es kommt im Oktober und Anfang November zu weiteren Gesprächen.

11. November 2022: Limbach spricht erneut mit dem Bundesverwaltungsrichter. Später räumt das Justizminsterium ein, Limbach habe diesen „über die eingegangene weitere Bewerbung unterrichtet und ihn gebeten, vor dem Hintergrund der gesamten Bewerberlage zu prüfen, ob er seine Bewerbung aufrechterhält“.

Plötzlich rückt die Duz-Bekanntschaft an die Spitze der Eignungsliste

15. November 2022: Das Innenministerium übermittelt dem Justizministerium die Beurteilung von Limbachs Duz-Bekanntschaft, die ja gar nicht in seinem Verantwortungsbereich arbeitet.

Ende 2022/Anfang 2023: Die Fachabteilung erstellt einen neuen Besetzungsvorschlag. Dabei werden die Personalakten der Bewerber vergleichen. Bei Interessenten, die nicht in der NRW-Justiz arbeiten, kommt es zu einer sogenannten „Überbeurteilung“. Dabei werden Noten anderer Dienststellen in ein einheitliches System übersetzt. Außerdem können bestimmte Gewichtungen vorgenommen werden. Am Ende steht Limbachs Duz-Bekanntschaft, die über Jahre nur Beurteilungen der katholischen Kirche und des Innenministeriums vorweisen konnte, an der Spitze der Bewerberliste.

2. Mai 2023: Limbach schlägt seine Duz-Bekannte als „hervorragend geeignet“ für das Präsidentenamt vor, obwohl sie nur wenige Jahre Erfahrung beim Oberverwaltungsgericht vorweisen kann.

5. Juni 2023: Der Präsidialrat der Verwaltungsgerichtsbarkeit stimmt Limbachs Auswahlentscheidung zu, führt aber aus, dass die Gestaltung des Besetzungsverfahrens erhebliches Befremden ausgelöst habe.

13. Juni 2023: Das Kabinett von Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) stimmt Limbachs Besetzungsvorschlag zu.

Zwei Klatschen von zwei Verwaltungsgerichten für den Minister

19. Juni 2023: Der von Biesenbach ursprünglich für das Präsidentenamt vorgeschlagene Abteilungsleiter für Öffentliches Recht im Justizministerium klagt gegen seine Nichtberücksichtigung und die Verletzung der vorgeschriebenen Bestenauslese beim Verwaltungsgericht Düsseldorf.

27. Juni 2023: Der unterlegene Bundesverwaltungsrichter reicht beim Verwaltungsgericht Münster Klage gegen seine Nichtberücksichtigung ein.

30. Juni 2023:Staatskanzleichef Liminski spricht nochmal mit dem klagenden Bundesverwaltungsrichter.

28. September 2023: Das Verwaltungsgericht Münster untersagt Limbach, das Präsidentenamt mit seiner Favoritin zu besetzen, und wirft dem Justizminister „manipulative Verfahrensgestaltung“ vor.

17. Oktober 2023: Auch das Verwaltungsgericht Düsseldorf erklärt die Besetzung für nichtig, urteilt aber milder als Münster. Limbachs Personalauswahl sei rechtlich nicht zu beanstanden, doch die „Überbeurteilung“ seiner Favoritin sei rechtswidrig gewesen.

1. November 2023: Staatskanzleichef Liminski spricht noch einmal mit Limbachs Favoritin und mit dem unterlegenen Bundesverwaltungsrichter.

15. Dezember 2023:Die Neue Richtervereinigung, ein Zusammenschluss von Richtern und Staatsanwälten in NRW, nennt die Vorgänge um die Besetzung des Präsidentenpostens am Oberverwaltungsgericht einen „Skandal“ und hält Limbach für im Amt nicht länger tragbar. Politische Bewerbungsgespräche für höchster Richterämter würden von diesem „zum Normalfall umdeklariert“.

1. März 2024: Das Oberverwaltungsgericht Münster sieht keine Anhaltspunkte für eine manipulative Verfahrensgestaltung. Die vorherigen Urteile der Verwaltungsgerichte Münster und Düsseldorf werden kassiert. Limbachs Bekannte kann das Präsidentenamt antreten. Die Rücktrittsforderungen an den Minister haben sich erledigt.

27. März 2024: Der unterlegene Bundesrichter ruft das Bundesverfassungsgericht wegen einer Verletzung der vorgeschriebenen Bestenauslese an. Bis zur Klärung darf das OVG-Präsidentenamt nicht besetzt werden.

7. Mai 2024: Die Oppositionsfraktionen von SPD und FDP bringen einen Untersuchungsausschuss des Landtags auf den Weg. Die politischen Hintergründe der Affäre sollen untersucht werden. Es stehe nach wie vor der Verdacht der Mauschelei und Begünstigung durch die Landesregierung im Raum.