Essen. Grüner Wasserstoff gilt als Hoffnung für das Industrieland NRW. Doch es fehlt an Ökostrom und Leitungen. Wie nachhaltig ist der Energieträger?
„Was wird all den Fabriken, den Zügen und Schiffen eines Tages als Brennstoff dienen, wenn die Kohlegruben nichts mehr hergeben?“
Schon vor 150 Jahren machte sich Jules Verne, der französische Autor, Gedanken über die Energie der Zukunft. Die Antwort gab er in seinem Roman „Die geheimnisvolle Insel“, in dem er seine Hauptfigur Cyrus Smith sagen ließ, was ThyssenKrupp heute denkt: „Das Wasser ist die Kohle der Zukunft. Die Energie von morgen ist Wasser, das durch elektrischen Strom zerlegt worden ist. Die so zerlegten Elemente des Wassers, Wasserstoff und Sauerstoff, werden auf unabsehbare Zeit hinaus die Energieversorgung der Erde sichern.“
Nachhaltigkeits-Debatte: Wasserstoff als letzte Hoffnung für energieintensive Industrien
Gibt es heute in Zeiten der Klimakrise ein Zauberwort, das in jeder Nachhaltigkeits-Debatte vorkommt, dann ist es tatsächlich das: Wasserstoff. Nichts Besonderes eigentlich. Ein Allerwelts-Gas, das häufigste Element im Universum. Auf der Erde ist es reichlich vorhanden, nämlich im Wasser. Doch nach Ansicht vieler könnte es das Wundermittel unserer Energiewende sein.
Bei der Nutzung von Wasserstoff entsteht kein Kohlendioxid (CO2) und kein anderes Treibhausgas, sondern schlicht und einfach Wasser (H2O). Eisen, Stahl und Zement, die energieintensive Herstellung von Chemikalien oder Düngemittel, das Fliegen und Autofahren: All das könnte fortan klimaneutral zu haben sein und einen Beitrag leisten, die globale Erwärmung in Grenzen zu halten. So jedenfalls lautet die Hoffnung. Worum es geht und was wichtig ist.
Klimaneutralität: Grüner Wasserstoff ist nachhaltig, aber teuer und begrenzt
Bis zum Jahr 2045 will Deutschland klimaneutral sein. Für das Industrieland Deutschland mit seinem industriellen Kern Nordrhein-Westfalen heißt das, die Art des Wirtschaftens neu zu erfinden. Denn es bedeutet, dass spätestens dann ein Gleichgewicht zwischen den ausgestoßenen Treibhausgasen und deren Abbau herrschen muss. Schon 2050 sollen mehr Treibhausgase gebunden als im Land ausgestoßen werden. Ohne Wasserstoff sei diese Transformationen in vielen Branchen und Bereichen nicht möglich, sagen Wirtschaft und Wissenschaft. Aus der Herstellung von Eisen und Stahl stammt rund ein Drittel der gesamten Industrieemissionen Deutschlands, die sich 2022 auf über 110 Millionen Tonnen CO2 beliefen.
Doch der Hoffnungsträger Wasserstoff hat seine Tücken. Um Wasserstoff und Sauerstoff in der Elektrolyse zu trennen, ist viel Energie nötig. Reiner Wasserstoff muss etwa für den Transport in Schiffen oder Lastwagen entweder bei –253 Grad Celsius verflüssigt oder bei einem Druck von bis zu 700 bar gespeichert werden, dabei geht kostbare Energie verloren. Und geht es darum, tatsächlich Klimaneutralität zu erreichen, dann kommt es darauf, auf welchem Weg der Wasserstoff gewonnen wurde: klimaschädlich aus Kohle und Erdgas, oder klimafreundlich aus erneuerbaren Energien.
Wie nachhaltig das Wundermittel der Energiewende tatsächlich ist, verraten die Farben, mit denen man die Art und Weise der Produktion kenntlich macht: Es gibt grauen, blauen, grünen und türkisen Wasserstoff – um nur die wichtigsten Farben zu nennen. Das sind die Unterschiede.
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Grauer Wasserstoff aus fossilen Brennstoffen: Kohlendioxid bei der Herstellung
Der aktuell in Deutschland produzierte Wasserstoff ist meistens grau. Das heißt, er wird unter Hitze aus fossilen Brennstoffen gewonnen, in der Regel aus Erdgas. Bei diesem Herstellungsverfahren, Dampfreformierung genannt, fällt Kohlendioxid an. Es entweicht in die Atmosphäre und wirkt als Treibhausgas. Bei der Produktion einer Tonne Wasserstoff entstehen rund zehn Tonnen CO2.
Blauer Wasserstoff: Kohlendioxid wird unterirdisch gespeichert
Bei dieser Art der Herstellung wird das aus fossilen Energieträgern anfallende Kohlendioxid aufgefangen und unterirdisch gespeichert, etwa in früheren Gas- und Öllagerstätten. Der Fachbegriff dafür ist „Carbon Capture and Storage“, abgekürzt CCS. Aus Sicht der Gaswirtschaft kann mit diesem Verfahren Wasserstoff nahezu klimaneutral hergestellt werden. Blauer Wasserstoff sei „unabdingbar, da nur so ausreichende Mengen“ CO2-arm und verlässlich bereitgestellt werden könnten. Das Umweltbundesamt sieht blauen Wasserstoff kritisch. Bei Förderung und Transport von Erdgas würden weiterhin die Treibhausgase Methan und Kohlendioxid ausgestoßen. Zudem sei eine vollständige Abscheidung des CO₂ aus dem Abgas nicht zu 100 Prozent möglich. Dennoch glaubt das Bundeswirtschaftsministerium, dass blauer Wasserstoff „für eine Übergangszeit einen Beitrag zur CO₂-Reduzierung leisten“ könne.
Grüner Wasserstoff: Elektrolyse mit Strom aus Erneuerbaren Energien
Als grün wird Wasserstoff bezeichnet, der per Elektrolyse aus Wasser mit Strom aus Erneuerbaren Energien erzeugt wird. Bei der Herstellung von grünem Wasserstoff entsteht kein Kohlendioxid als schädliches Treibhausgas. Für das Bundeswirtschaftsministerium spielt grüner Wasserstoff daher eine zentrale Rolle beim Erreichen der Klimaziele – vor allem in den energieintensiven Bereichen der Industrie und im Verkehr. Die größte Herausforderung dabei: Grüner Wasserstoff ist teuer und absehbar nur begrenzt verfügbar. Die Pläne der EU-Kommission sehen vor, im Jahr 2030 in der EU zehn Millionen Tonnen grünen Wasserstoff zu produzieren. Um den nötigen Ökostrom in ausreichender Menge nutzen zu können, müsste der Anteil der Erneuerbaren Energien massiv ausgebaut werden. So schätzt die Denkfabrik Agora Energiewende etwa, dass der Bau von Wind- und Solaranlagen innerhalb der nächsten zehn Jahre verdreifacht werden müsse.
Dort, wo Strom direkt eingesetzt werden kann, etwa beim Heizen oder in der Elektromobilität, spiele Wasserstoff keine strategische Rolle. Sinnvoller ist es nach Ansicht von Experten, den knappen grünen Wasserstoff für Branchen zu priorisieren, die ihre Produktion nicht auf einem anderen Weg klimaneutral gestalten kann und die in absehbarer Zeit nicht elektrifiziert werden könnten, so das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Dazu zählen bestimmte Prozesse in der Schwerindustrie, die Schifffahrt, der Flugverkehr und Teile des Schwerlastverkehrs. „Der Wasserstoff ist der ganz teure Champagner der Energiewende“, sagt Rainer Baake, Direktor der Stiftung Klimaneutralität.
Türkiser Wasserstoff: Noch Forschungsbedarf
Als türkis wird Wasserstoff bezeichnet, der durch ein thermisches Verfahren namens Pyrolyse erzeugt wird. Dabei wird Erdgas in Wasserstoff und festen Kohlenstoff gespalten. Wenn der Kohlenstoff dauerhaft gebunden bleibt und nicht verbrannt wird, ist das Verfahren CO₂-neutral, erklärt der Energieversorger EWE. Laut Umweltbundesamt wurde die Methanpyrolyse vor allem entwickelt, um festen Kohlenstoff zu gewinnen. Wasserstoff falle als Nebenprodukt an. Die Behörde sieht noch Forschungsbedarf.
Orangener Wasserstoff: Energie aus organischen Stoffen
Als orangefarbenen Wasserstoff bezeichnet man Wasserstoff, der aus Bioenergie hergestellt wurde. Laut Forschungsinstitut Ikem ist Bioenergie eine kohlenstoffneutrale Energie, die aus organischen Stoffen gewonnen wird und etwa als Biomasse, Biokraftstoff, Biogas oder Biomethan vorliegen kann.
Roter, pinker, violetter Wasserstoff: Elektrolyse per Atomstrom
Mit diesen drei Farben wird Wasserstoff aus einer Elektrolyse bezeichnet, die mit Atomstrom betrieben wird.
Der Plan: Deutschland will bis zu 50 Prozent des benötigten Wasserstoffs selbst herstellen
Deutschland will bis 2030 etwa 30 bis 50 Prozent seines Bedarfs an Wasserstoff in Elektrolyseuren selbst produzieren. Ziel der Bundesregierung ist, dass bis 2030 mindestens zehn Gigawatt Elektrolyseleistung in Deutschland installiert sind. Nach Angaben des Projekts Wasserstoff-Kompass, das von der Bundesregierung gefördert wird, sind in Deutschland aktuell Elektrolyseure mit einer Elektrolyseleistung von 173,4 Megawatt installiert – das sind etwa 1,7 Prozent der in 2030 angepeilten Leistung.
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Der Rest des benötigten Wasserstoffs soll importiert werden. Das soll über Pipelines passieren oder mit dem Schiff. Ein Teil der künftigen Wasserstoff-Importe soll aus Norwegen kommen, die Bundesregierung hofft aber auch auf afrikanische Länder wie Nigeria, die dank mehr Sonnenstunden bessere Voraussetzungen für Solarstrom haben.
Der Startschuss in Deutschland: Bis 2030 soll in Deutschland das Wasserstoff-Kernnetz entstehen
Noch fehlt für den Wasserstoff-Transport in Deutschland die Infrastruktur. Das aber könnte sich in wenigen Jahren ändern: Bis 2032 soll ein 9.700 Kilometer langes Wasserstoff-Kernnetz entstehen. Die Pipelines sollen Häfen, Industrie, Speicher und Kraftwerke miteinander verbinden, erklärte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck vor wenigen Wochen. „Das sind die Bundesautobahnen“ des Wasserstoffnetzes, so Habeck. Das Netz sieht auch Übergabepunkte an den Grenzen Deutschlands vor. So soll der grenzüberschreitende Wasserstoffaustausch und den Import von Wasserstoff aus anderen Weltregionen ermöglicht werden. Die Kosten von 19,8 Milliarden Euro soll die Privatwirtschaft tragen, werden aber vom Bund vorgestreckt.
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