Berlin. Regierungschefin Giorgia Meloni will Italiens Verfassung reformieren. Doch ihr Vorschlag ist umstritten. Was sie damit erreichen will.
„Die Mutter aller Reformen“ – so nennt die italienische Premierministerin Giorgia Meloni den Gesetzentwurf, als sie ihn Anfang des Monats vorstellt. Der zentrale Punkt der „Mutter aller Reformen“: die Direktwahl des Ministerpräsidenten oder der -präsidentin. Diesem sollen zudem mehr Befugnisse eingeräumt werden.
Meloni zufolge würde diese Reform „zwei große Ziele“ gewährleisten, nämlich „das Recht der Bürger zu entscheiden, von wem sie regiert werden möchten“, und „das Prinzip, dass derjenige, den das Volk wählt, mit einer Legislaturperiode regieren kann“. Sollte es Meloni gelingen, die Reform durchzubringen, wäre dies laut Beobachtern die umfangreichste Änderung der Verfassung seit ihrem Inkrafttreten 1948.
Seit nun mehr als einem Jahr regieren die ultrarechten Fratelli d‘Italia unter Meloni zusammen mit der konservativen Partei Forza Italia und der rechtspopulistischen Lega. Die nun angekündigte Verfassungsreform war eines der wichtigsten Wahlversprechen des Regierungsbündnisses.
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Italien: Melonis Reform soll dem Ministerpräsidenten mehr Macht einräumen
Der Reformentwurf sieht vor, dass der Regierungschef für fünf Jahre direkt vom Volk gewählt wird. Es genügt eine einfache Mehrheit, Stichwahlen sind nicht vorgesehen. Damit der Wahlsieger handlungsfähig ist, sollen automatisch mindestens 55 Prozent der Sitze in den Parlamentskammern zugewiesen werden. Eine Begrenzung der Amtszeiten steht nicht im Entwurf. Der Präsident hat während einer Legislaturperiode nur einmal die Option, die Regierungsführung auf eine andere Person zu übertragen. Diese Person muss ein gewählter Abgeordneter aus dem Mehrheitsbündnis des ursprünglich gewählten Ministerpräsidenten sein und muss sich an dessen Programm halten.
Meloni und ihre Regierung wollen mit der Reform gegen die Instabilität italienischer Regierungen ankämpfen – und damit auch ihre eigene Regierung absichern. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte Italien fast 70 Regierungen. „Italienische Verhältnisse“, der Ausdruck steht im Deutschen sprichwörtlich für politisches Chaos.
Meloni will mehr Stabilität statt „italienischer Verhältnisse“
Ein Hauptgrund dafür ist das politische System des Landes – und die Verfassung, auf dem es fußt. Nach dem Zweiten Weltkrieg und mehr als zwei Jahrzehnten faschistischer Gewaltherrschaft unter Diktator Benito Mussolini sollte die Verfassung unbedingt verhindern, dass ein einziger Mensch wieder alle Macht auf sich vereint. Daraus resultiert ein System mit einem schwachen Ministerpräsidenten, dem die beiden Parlamentskammern Abgeordnetenhaus und Senat vergleichsweise einfach das Vertrauen entziehen können. Anders als in Deutschland muss bei einem Misstrauensvotum nicht automatisch ein neuer Regierungschef gewählt werden.
Das zu ändern wäre eine weit einfachere und sinnvollere Lösung als die von Meloni vorgeschlagene Verfassungsreform – findet der Politikwissenschaftler Roman Maruhn. „Es gibt keinen demokratischen Grund, warum man den Ministerpräsidenten direkt wählen sollte“, erklärt Maruhn. Die Reform sei von einem Ministerialsystem „ein Schritt zu einem Präsidialsystem“, urteilt er. „Die Idee, den Ministerpräsidenten direkt vom Volk wählen zu lassen, mag auf den ersten Blick nach einer Stärkung der demokratischen Legitimität erscheinen“, so der Italien-Experte. Doch die Wähler würden stärker eine abstrakte Person wählen statt einen Abgeordneten, der für sie eine Bezugsperson darstellt und den sie im besten Fall kennen und als Ansprechpartner sehen. „Dieser extreme Fokus auf eine Einzelperson entmachtet das Parlament erheblich“, meint Maruhn.
Für Melonis Reform gibt es nur ein vergleichbares Beispiel: Israel
Das einzige Vorbild für die Reform liefert Israel. Dort wurde ein ähnliches System in den 1990er-Jahren eingeführt – und nach drei Wahlen 2003 wieder abgeschafft. Die Direktwahl des Premierministers, die auch dort eingeführt worden war, um die Regierung zu stabilisieren, bewirkte das genaue Gegenteil.
In demokratischen Staaten gibt es kein einziges Beispiel für ein solches Wahlsystem. Eine Direktwahl des Ministerpräsidenten wäre damit in Europa einmalig. Und auch in Italien ist das System bisher ein völlig anderes. Bislang werden in Italien spätestens alle fünf Jahre die beiden Parlamentskammern gewählt. Der Präsident der Republik beauftragt danach eine Person seiner Wahl mit der Regierungsbildung und ernennt in Absprache mit dieser die Minister.
Laut dem Politikwissenschaftler Maruhn könnte es durch die Reform zwischen Präsident und Ministerpräsident einen Konflikt geben. „Die vorgeschlagene Reform könnte eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem direkt gewählten Ministerpräsidenten und dem Staatsoberhaupt schaffen“, sagt er. „Die demokratischen Bedenken sind enorm, da diese Reform die traditionellen Gewaltenteilungsprinzipien untergraben würde.“
Ein Referendum könnte Melonis Zukunft gefährden
Doch ob die Verfassungsänderung je umgesetzt wird, ist fraglich. Für jede Verfassungsänderung ist in Italien eine Zweidrittelmehrheit in den beiden Kammern des Parlaments nötig. Sollte diese nicht zustande kommen, muss über jeden Vorschlag in einem Referendum abgestimmt werden. Dass eine Zweidrittelmehrheit zustande kommt, ist sehr unwahrscheinlich, denn die Opposition, die Meloni im Parlament für eine Zweidrittelmehrheit bräuchte, lehnte das Vorhaben zuletzt ab.
Einige Vorgänger Melonis sind bereits mit dem Versuch gescheitert, eine solche Reform durchzusetzen. Zuletzt versuchte sich etwa der damalige Regierungschef Matteo Renzi 2016 vergeblich an einem Verfassungsreferendum – und trat daraufhin zurück. Auch den aktuellen Reformvorschlag könnte Meloni wohl nur durch eine Volksabstimmung durchbringen. „Der Ausgang eines Referendums über eine solche tiefgreifende Verfassungsänderung wäre unsicher, und ein Scheitern würde nicht nur die Reform selbst, sondern auch die aktuelle Regierung gefährden“, erklärt Italien-Experte Maruhn.