Tel Aviv. Olaf Scholz ist der erste ausländische Regierungschef, der Israel nach dem Terror der Hamas besucht. Chefreporter Jan Dörner ist dabei.
In einem schwarzen Hemd steht Benjamin Netanjahu an einem Pult und berichtet von dem Leid, das sein Volk erlitten hat. Getötete Babys, vergewaltigte Frauen, an den Händen gefesselte Leichen. „Diese Gräueltaten waren die schlimmsten Verbrechen gegen Juden seit dem Holocaust“, sagt der israelische Ministerpräsident. „Hamas – das sind die neuen Nazis.“ Die Welt müsse vereint hinter Israel stehen, um die Hamas zu besiegen, fordert Netanjahu.
Mit versteinerter Miene hört Olaf Scholz zu. „All das lässt unser Blut in den Adern gefrieren“, sagt der Bundeskanzler. „Das ist ein Besuch bei Freunden in schwierigen Zeiten.“ Netanjahu empfängt Scholz im israelischen Verteidigungsministerium, auf den Gängen wimmelt es von jungen Männern und Frauen in Uniform. Die Straßen der Mittelmeermetropole Tel Aviv hingegen sind leerer als gewöhnlich. Scholz besucht ein Land im Krieg. Der Besuch von Scholz am zehnten Tag nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel ist ein Versprechen: Wir lassen euch mit eurem Schmerz, wir lassen euch in diesem Kampf nicht allein.
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Die Reise des Kanzlers soll den Israelis 80 Jahre nach dem Holocaust demonstrieren, dass Deutschland zu ihnen steht, wenn Juden heute angegriffen, gefoltert, vergewaltigt und getötet werden. „Die Sicherheit Israels und seiner Bürger ist deutsche Staatsräson“, wiederholt Scholz in Tel Aviv sein Versprechen der vergangenen Tage.
Diese Solidarität will Scholz nicht nur aus der Ferne im deutschen Fernsehen oder im Bundestag zeigen, sondern auch in direkten Gesprächen vor Ort, er trifft außer Netanjahu auch Präsident Jitzchak Herzog. Scholz ist der erste ausländische Regierungschef, der das tief verwundete Land nach den Gräueltaten der Hamas besucht. US-Präsident Joe Biden wird am Mittwoch erwartet.
Seit die Terroristen Israel am 7. Oktober überfallen haben, hat Scholz unmissverständlich deutlich gemacht, wo er Deutschland in dieser schweren Zeit sieht: fest an der Seite Israels. In einer Regierungserklärung hatte der Kanzler militärische Hilfe in die deutsche Solidarität eingeschlossen. Deutschland überlässt der israelischen Armee bisher zwei bewaffnungsfähige Drohnen, die bei einer Bodenoffensive in Gaza zum Einsatz kommen können. Weitere Anfragen liegen Deutschland bisher nicht vor.
Netanjahu fordert zumindest bei dem gemeinsamen Pressestatement mit dem Gast aus Deutschland keine Hilfe. Auch wenn Israel von der Hamas-Attacke tödlich überrascht wurde, ist der Staat wie wohl kein anderes Land der Welt auf einen solchen Krieg vorbereitet.
Scholz: Israel hat jedes Recht, sich zu verteidigen
Bei allen Warnungen vor einer Eskalation des Konflikts lässt Scholz in diesen Tagen keinen Zweifel daran zu, dass er Israel im Recht sieht, wenn das Land nun hart gegen die Hamas zurückschlägt. Scholz verurteilt den Überfall der Hamas abermals als einen verabscheuungswürdigen terroristischen Akt. Israel habe jedes Recht, sich zu verteidigen, hebt Scholz in Tel Aviv abermals hervor.
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Allerdings treiben die Bundesregierung auch große Sorgen um: Wie kann der Zivilbevölkerung in Gaza angesichts einer drohenden humanitären Katastrophe geholfen werden? Führt eine Bodenoffensive der israelischen Armee zu unglaublichem Blutvergießen auf beiden Seiten? Mit welcher Perspektive auch für die Menschen in Gaza lässt sich dieser Konflikt beenden? Wie lässt sich verhindern, dass die mit dem Iran verbündete Hisbollah-Miliz aus dem Libanon eine zweite Front im Norden eröffnet? Droht gar ein Einschreiten des Iran selbst? Dies wäre ein „schwerer und unverzeihlicher Fehler“, warnt Scholz.
„Wir wollen Zivilisten schützen und zivile Opfer vermeiden“
Doch er hat auch eine Botschaft an Netanjahu. „Wir wollen Zivilisten schützen und zivile Opfer vermeiden“, mahnt Scholz. Der israelische Regierungschef gibt sich unbeeindruckt, er verweist auf die Verantwortung der Hamas, die Zivilisten als menschliche Schutzschilde missbrauche und an einer Flucht hindere – die eigene Bevölkerung und gefangene Juden.
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Beim Besuch des Kanzlers geht es auch um das Schicksal der rund 200 Geiseln, die von den Hamas-Terroristen in den Gazastreifen verschleppt worden sind. Die Bundesregierung steht in engem Kontakt mit der israelischen Regierung, aber auch mit den Nachbarländern Ägypten und Jordanien sowie der Türkei, um sich über verschlungene Kanäle für eine Befreiung einzusetzen.
Scholz trifft Familien verschleppter Deutsche
Jordaniens König Abdullah II. empfing Scholz noch am Dienstagmorgen vor seinem Abflug nach Israel im Kanzleramt. Ägyptens Präsidenten Abdel Fatah al-Sisi trifft Scholz am Mittwoch in Kairo, bevor der Kanzler die Rückreise nach Berlin antritt. Nach Kenntnis der Bundesregierung sind unter den Verschleppten mehrere deutsche Staatsbürger. Das Auswärtige Amt spricht von acht Fällen, wobei eine Familie mit mehreren Personen als ein Fall gelten kann. Dass weitere Deutsche unter den Geiseln sind, kann nicht ausgeschlossen werden.
Ob die Geiseln noch leben, in welchen Kellern, Kerkern oder Tunneln sie in dem Reich der Hamas versteckt werden, ist ungewiss. Die Bundesregierung hat keinen Kontakt zu den Menschen. In der deutschen Botschaft trifft Scholz Familien verschleppter Deutscher. Vor dem Gebäude und stehen Freunde und Verwandte mit Plakaten, um etwa auf das Schicksal der jungen Frau Shani Louk aufmerksam zu machen. „Only Scholz can save Shani“, steht auf einem Plakat. Der Bundeskanzler verspricht: „Wir bemühen uns nach Kräften, ihre Freilassung zu erreichen.“
Kurz vor dem Treffen ertönt zweimal Luftalarm. Der Kanzler und alle anderen Menschen in der Botschaft müssen einen Schutzraum aufsuchen. Später wird es dann noch einmal hektisch. Kurz vor dem Abflug nach Kairo, der Kanzler und seine Delegation sind bereits im Flugzeug, gibt es plötzlich Raketenalarm. Alle müssen raus, zu ihrem eigenen Schutz flach auf das Rollfeld legen. Der Regierungschef wird in einem nahegelegenen Container in Sicherheit gebracht. Am Himmel fängt der „Iron Dome“ Raketen der Hamas ab. In Israel herrscht Krieg – das spürt auch Kanzler Scholz.