Brüssel. Nato droht mit Antwort auf Sabotage: Was wir wissen und was anders ist als bei Nord Stream. Was suchte dort ein russisches Schiff?
Die Nato und die EU haben besorgt auf den mutmaßlichen Anschlag auf eine Ostsee-Gaspipeline zwischen Estland und Finnland reagiert. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte, über den Vorfall werde bei einem Treffen von Nato-Verteidigungsministern am Mittwoch in Brüssel beraten. Wenn es sich bestätigen sollte, dass es sich um einen Anschlag auf kritische Infrastruktur im Nato-Gebiet handele, werde die Allianz eine „entschlossene Antwort“ geben. Die Nato hatte schon zuvor erklärt, es würden Anstrengungen verstärkt, um die Sicherheit kritischer Unterwasser-Infrastruktur zu erhöhen: Die Situation werde „sehr genau beobachtet“, hieß es.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte, sie verurteile aufs Schärfste jeden Akt der vorsätzlichen Zerstörung kritischer Infrastruktur. Finnland und Estland hätten die volle Solidarität der Europäischen Union. Von der Leyen verglich den mutmaßlichen Anschlag mit der noch immer nicht aufgeklärten Sabotageaktion gegen die Erdgasleitungen Nord Stream 1 und Nord Stream 2 im September 2022. Es sei das zweite Mal innerhalb von etwas mehr als einem Jahr, dass diese Art von kritischer Infrastruktur beschädigt werde, sagte von der Leyen.
Bei dem Vorfall waren bereits am Wochenende die Gasleitung Balticconnector im finnischen Hoheitsbereich der Ostsee und ein Datenkabel beschädigt worden. Nach einem Druckabfall in der Nacht zu Sonntag wurde die 77 Kilometer lange Gasleitung abgeschaltet. Erst am Dienstag informierten die finnische und die estnische Regierung über die Vermutung einer vorsätzlichen Tat.
War es eine Explosion? Was dafür und was dagegen spricht
Allerdings gibt es nach überwiegender Experteneinschätzung deutliche Unterschiede zur Explosion der Nord-Stream-Leitungen: Anders als vor einem Jahr sind zumindest in den angrenzenden Ländern keine Erschütterungen gemessen worden. „Wir haben keinerlei Signale einer Explosion festgestellt“, sagte der Forschungsdirektor der Seismologischen Universität Helsinki, Timo Tiira. Ähnlich äußerten sich Seismologen in Estland.
Der estnische Verteidigungsminister Hanno Pevkur sagte, nach vorläufigen Erkenntnissen habe es keine Explosion gegeben. Bilder von den Schäden bestätigten aber, dass der Schaden mechanisch und von Menschen verursacht worden sei. Die Beschädigung könne nicht allein von einem Taucher oder einem kleinen U-Boot herbeigeführt worden sein, dazu sei sie zu massiv. Die zentrale Kriminalpolizei Finnlands erklärte ebenfalls, es gebe keine Hinweise auf eine Explosion, doch seien die Schäden so groß, dass die Reparatur vermutlich Monate dauern werde.
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Im Widerspruch zu diesen Befunden stehen aber Angaben des norwegischen seismologischen Instituts Norsar: Demnach haben die Norsar-Wissenschaftler am Sonntag gegen 1.20 Uhr in der finnischen Ostsee eine wahrscheinliche Explosion gemessen, was dem vermuteten Tatzeitpunkt entsprechen würde – der Schaden wurde nach finnischen Angaben um 2 Uhr entdeckt. Das norwegische Institut gibt die gemessene Magnitude mit 1.0 an, bei den Explosionen an den Nord-Stream-Pipelines wurde die dreifache Stärke gemessen.
Pipeline-Sabotage: Die Nato hilft bei den Ermittlungen
Die Vermutung eines Sabotageaktes hatte als Erstes der finnische Präsident Sauli Niinistö öffentlich geäußert: „Es ist wahrscheinlich, dass der Schaden sowohl an der Gaspipeline als auch der am Kommunikationskabel das Ergebnis von Aktivitäten von außen ist“, erklärte er am Dienstag. Die Ursache sei aber noch nicht klar, die Ermittlungen gingen weiter. Niinistö informierte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg über die bisherigen Erkenntnisse. Stoltenberg sicherte demnach die Bereitschaft zu, bei den weiteren Ermittlungen zu helfen. Stoltenberg selbst sagte, die Nato sei bereit, „Informationen über die Zerstörung der finnischen und estnischen Unterwasser-Infrastruktur zu teilen“.
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Die Allianz hatte nach dem Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines angekündigt, die Präsenz in der Nord- und Ostsee auf mehr als 30 Schiffe zu verdoppeln sowie Seeaufklärungsflugzeuge und Unterwasser-Fähigkeiten einzusetzen. Jetzt vermeiden offizielle Stellen in Finnland und Estland ebenso wie die Spitzen von Nato und der EU, öffentlich einen Verdacht zur Urheberschaft des neuen mutmaßlichen Angriffs zu äußern.
Finnische Medien zitieren Regierungskreise, dass ein Zusammenhang mit dem finnischen Nato-Beitritt vor gut einem Jahr vermutet wird. Eine Reaktion Russlands sei eigentlich schon viel früher erwartet worden, hieß es demnach. Auch in Sicherheitskreisen in Brüssel wird bestätigt, dass sich der Verdacht zuerst auf Russland richte. Es handele sich möglicherweise um einen Test, wie die Nato auf einen solchen Vorfall reagiere.
Russisches Schiff wurde am Tatort gesichtet
Finnische Medien berichten unter Berufung auf Sicherheitsexperten, in der Nähe des Tatorts sei kürzlich ein russisches Beobachtungsschiff gesehen worden. Der unabhängige Militärbeobachter Konrad Muzyka berichtet ebenfalls, ein russisches hydrografisches Beobachtungsschiff sei im Mai, August und September in der Nähe der Pipeline und des Datenkabels erkannt worden. „Sehr wahrscheinlich hat Russland die Pipeline ausgespäht“, meint Muzyka.
Nato-Generalsekretär Stoltenberg hatte vor einigen Monaten deutlich gemacht, dass jeder gezielte Angriff auf die kritische Infrastruktur der Alliierten eine „geschlossene und entschlossene Antwort zur Folge haben wird“. Wie man reagiere, hänge von der Art des Angriffs ab. Es sei nicht ausgeschlossen, dass bei einem weitgehenden Angriff der Nato-Bündnisfall ausgerufen werde, warnte Stoltenberg.
So weit wird es nach dem neuen Vorfall wohl nicht kommen, selbst wenn Verantwortliche ausfindig gemacht werden sollten: Die 2019 in Betrieb genommene Pipeline ist zwar seit dem russischen Gaslieferstopp die einzige Leitung, über die Finnland Erdgas bezieht. Doch liefert die Pipeline nur fünf Prozent des finnischen Energieverbrauchs. Der finnische Premierminister Petteri Orpo sagte, Finnlands Energieversorgung bleibe stabil und auch die Schäden am Datenkabel beeinträchtigten Finnlands Verbindungen nicht.