Moskau. Russland braucht Soldaten. Doch Putin will keine weitere Mobilisierung – er hat ein viel probateres und perfideres Mittel gefunden.
Nein, eine weitere Mobilisierung von Reservisten werde es nicht geben, sagt Russlands Präsident Wladimir Putin. Die Mobilisierung sei definitiv „am Ende“, so der Kremlchef laut der Zeitung „Wedomosti“. Die umstrittene Einberufung im vergangenen Jahr wurde in Russland vielfach kritisiert. Eine weitere Mobilisierungswelle will man einige Monate vor der Präsidentschaftswahl wohl nicht riskieren.
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Diese ist wohl auch nicht nötig. Denn Russlands Militär hat ein viel probateres Mittel gefunden, um neue Soldaten anzuwerben: Geld. Gelernt hat man das von Söldnerführer Jewgeni Prigoschin, der jüngst bei einem nach wie vor mysteriösen Flugzeugabsturz ums Leben kam. Prigoschin hatte vor dem Einsatz in der Ukraine seine Wagner-Truppe kräftig aufgestockt, zahlte seinen Soldaten vergleichsweise guten Sold.
Nun also Lohnerhöhung auch beim regulären Militär. Offizielle Zahlen dazu gibt es nicht, wohl aber Schätzungen. Zu Beginn der Kämpfe erhielt etwa ein Leutnant rund 800 Euro pro Monat. Jetzt verdient ein einfacher Gefreiter an der Ukraine-Front bereits 1.800 Euro. Und mancher Unteroffizier komme auf rund 2.000 Euro im Monat, schätzt das britischeVerteidigungsministerium – das ist das 2,7-Fache des russischen Durchschnittslohns. Im Todesfall bekommen die Angehörigen eine „Einmalzahlung des Präsidenten“ in Höhe von fünf Millionen Rubel, rund 50.000 Euro.
Inosemzew: „Tod auf dem Schlachtfeld ist lukrativer Einsatz des eigenen Lebens“
Für junge Russen ist das äußerst lukrativ. Der Wirtschaftswissenschaftler Wladislaw Inosemzew sagt laut der Online-Plattform „Dekoder“: „Gerade für Familien aus den ärmeren Regionen des Landes eröffnet der Kriegseinsatz eines Angehörigen ungeahnte Einkommensperspektiven. Der Tod auf dem Schlachtfeld ist im heutigen Russland nicht nur ein ‚ehrenvolles Schicksal‘, sondern auch ein lukrativer Einsatz des eigenen Lebens.“
Seit Januar dieses Jahres hätten sich bereits rund 280.000 Menschen verpflichtet, berichtet Dmitri Medwedew, der stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrats. Bereits zuvor hatte Verteidigungsminister Sergej Schoigu vorgeschlagen, die Armee auf 1,5 Millionen Militärangehörige aufzustocken, darunter bis zu 695.000 Vertragssoldaten. Die Umsetzung dieser Pläne sei bis 2026 geplant.
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Der Prozess gehe weiter, jeden Tag kämen 1000 bis 1500 Menschen, um den Vertrag zu unterzeichnen, zitiert das Online-Medium „RBC“ Kremlchef Putin. Menschen würden sich unter den heutigen Bedingungen bewusst zum Militärdienst melden. Sie wüssten, dass sie letztendlich an der Front landen werden. „Unsere Männer, russische Männer, die erkennen, dass sie ihr Leben für das Vaterland geben oder schwer verwundet werden können, tun es immer noch bewusst und freiwillig und verteidigen die Interessen des Vaterlandes“, so Russlands Präsident.
Rekrutierung von Arbeitsmigranten durch Einschüchterungsversuche
Heimaturlaub gibt es allerdings keinen. Eine Rotation sei nicht vorgesehen, sagt Andrei Kartapolow, der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der Staatsduma, des russischen Parlaments. „Die Militäroperation selbst läuft“, antwortete Präsident Putin bei einem Treffen mit Offizieren auf eine entsprechende Frage. „Natürlich wird es irgendwann notwendig sein, die Menschen schrittweise nach Hause zurückzubringen, und dieses Thema wird natürlich im Verteidigungsministerium diskutiert.“
Doch noch geht es um neue Soldaten. Und da sieht man noch eine weitere Möglichkeit: die Anwerbung von Arbeitsmigranten aus bettelarmen Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Viele von ihnen arbeiten in Russland zum Hungerlohn und schicken ihren kargen Verdienst nach Hause. Menschen aus den zentralasiatischen Staaten seien zahlreichen Einschüchterungsversuchen der russischen Behörden ausgesetzt, um sie zum Eintritt in die Armee zu bewegen, berichtet die Online-Plattform „Novastan“.
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Und das Potenzial ist hoch: 1,3 Millionen Menschen kamen allein im ersten Quartal 2023 nach Russland, um dort zu arbeiten, vorwiegend aus Zentralasien. Sie seien das neue Ziel russischer Rekrutierungsstellen, warnt der tadschikische Politologe Parwis Mullodschonow. „Die russischen militärischen Rekrutierungsbüros können eine so wichtige Mobilisierungsressource nicht ignorieren.“
Migrationszentrum: Russische Staatsbürgerschaft nach sechs Monaten Militärdienst
Die meisten Arbeitsmigranten streben die russische Staatsbürgerschaft an – auch um ständigen Schikanen zu entgehen. Im Migrationszentrum habe ihm eine Mitarbeiterin angeboten, in die Armee einzutreten, erzählt ein Arbeiter aus Tadschikistan. „Sie sagte, wenn ich Vertragssoldat würde, bräuchte ich keine Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis mehr und könnte nach sechs Monaten Militärdienst einen russischen Pass bekommen.“ Tadschikistan, Kirgistan und Usbekistan verbieten ihren Bürgern, in fremden Kriegen zu kämpfen. „Söldnertum“ kann mit mehrjährigen Haftstrafen geahndet werden. Viele Migranten melden sich trotzdem freiwillig.
Manchmal scheint die Rekrutierung noch härter zu erfolgen. „Novastan berichtet von der Geschichte eines Migranten aus Tadschikistan. Nachprüfen kann man sie nicht, doch es gibt viele ähnliche Erzählungen. Der junge Mann sei illegal in Russland gewesen, wie viele Migranten. Er sei verhaftet worden, sollte eigentlich abgeschoben werden. 25 Tage habe er in einem Internierungslager verbracht, erzählt er. Dann habe er ein Dokument unterschreiben müssen, eine Verpflichtung. „Ich habe ihnen jeden Tag gesagt, dass ich nicht in den Krieg ziehen würde, aber sie haben mich trotzdem dorthin geschickt.“