Berlin. Rechtsextreme und fremdenfeindliche Haltungen bewegen sich auf einem neuen Niveau. Ein Wissenschaftler zeigt sich sehr beunruhigt.
Die AfD schwebt in diesen Tagen von einem Umfragehoch zum nächsten. Und auch die neue Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung und des interdisziplinären Instituts für Konflikt und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld rüttelt auf: Die Zahl der Menschen in Deutschland, die rechtsextreme Einstellungen teilen, Gewalt gegen Politikerinnen und Politiker gutheißen und sexuelle und religiöse Minderheiten verachten, hat massiv zugenommen. Nico Mokros ist einer von drei Herausgebern und Mitautor der Studie. Er sagt: "Es gibt offenbar in der Bevölkerung seit vielen Jahren ein Potential – und das wird jetzt gut abgeschöpft."
Die Deutschen hegen laut der aktuellen Mitte-Studie deutlich mehr rechtsextreme Tendenzen als noch vor zwei Jahren. Wie bewerten Sie die zentralen Ergebnisse im Vergleich zu den Vorjahren?
Nico Mokros: Wir haben viel darüber im Forschungsteam diskutiert. Anfangs waren wir teilweise von den Befunden schockiert. Auch in dem Wissen: Wir werden das später kommunizieren und erklären müssen.
Wovon waren Sie schockiert?
Mokros: Die Zustimmungswerte in allen Facetten, die wir erfasst haben, sind hoch, sowohl bei den hart rechtsextremen Einstellungen also auch beim Rechtspopulismus. Es herrschen dabei bestimmte Vorstellungen vor, die den Wert und Erhalt der Demokratie in Frage stellen. Bestimmte gesellschaftliche Minderheiten werden deutlicher als bisher abgelehnt.
Wie erklären Sie sich diesen Zuwachs?
Mokros: Wir hatten in der letzten Erhebung 2020/2021 die niedrigsten Werte seit Bestehen der Studie in der Form. Damals hatten wir den zweiten Lockdown in der Pandemie. Nun, zwei Jahre später, haben wir diesen massiven Anstieg. Da bricht jetzt ein bisschen was aus. In der Corona-Zeit haben wir politisch und gesellschaftlich nur über die Pandemie-Bewältigung gesprochen. Für Rechtsextremismus hat sich damals niemand interessiert – bis dann die Corona-Leugner und Verschwörungstheoretiker aufgetaucht sind. Aber selbst das wurde noch als pandemiebedingte Ausnahmeerscheinung bewertet.
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Was meinen Sie?
Mokros: Viele Menschen in Deutschland haben die Beweggründe und Zusammenschlüsse der selbsternannten "Querdenker" nicht unmittelbar als demokratiegefährdend gesehen. Da würde ich sagen: So stark auszublenden, dass da gesellschaftlich erneut und nachhaltig etwas ins Rutschen kommt, war ein Fehler. Dass man den Rechtsextremismus in der Pandemie zumindest politisch etwas aus dem Blick verloren und geglaubt hat, das Thema sei jetzt vom Tisch, wenn wir nicht darüber reden.
Die hohe Zustimmung zu rechtsextremen und menschenfeindlichen Aussagen kommt nicht aus dem Nichts.
Mokros: Nein. Ich glaube, da ist etwas losgebrochen, natürlich auch verstärkt durch die vielen anderen Krisen, die wir gerade erleben. Diese Einstellungen, die wir da messen, entstehen nicht von heute auf morgen. Sie brauchen eine gewisse Zeit, um überhaupt sichtbar zu werden. Manchmal werden sie den Befragten erst in unseren Telefoninterviews bewusst – wenn die Menschen zum ersten Mal darüber nachdenken, wie sie zu dieser oder jener Aussage stehen.
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Wie sehr besorgt Sie das?
Mokros: Mich persönlich besorgt es sehr, auch als Wissenschaftler. Wir müssen noch genauer hinschauen, welche Gruppen wir in besonderer Ausprägung vorfinden. Gleichzeitig ist es eine Reaktion aus der Mitte zu sagen: Okay, es sind diese und jene Parteianhänger, die bei den rechtsextremen Aussagen stärker zustimmen. Der Tenor dabei: Alle anderen können sich entspannen. Das ist ein Fehler! Wir können diese Ergebnisse nicht einzelnen Bevölkerungsgruppen und Parteipräferenzen anhaften. Ernst zu nehmen ist: Wir haben acht Prozent, die laut aktueller Umfrage ein rechtsextremes Weltbild haben. Das ist ein Bevölkerungsdurchschnitt, unabhängig von Parteipräferenzen, sozialer Zugehörigkeit, Herkunft, Einkommen, Bildung und so weiter. Und das macht mir große Sorgen.
Wie haben Sie die Deutschen wahrgenommen, während Sie das Buch zur Studie geschrieben haben?
Mokros: Vor dem Hintergrund der Ergebnisse haben wir die Gesellschaft natürlich nochmal anders beobachtet. Was wir gesehen haben: Rechtsextreme Entwicklungen und Äußerungen wurden geduldet, normalisiert und teilweise auch aufgegriffen. Es gibt also offenbar in der Bevölkerung seit vielen Jahren ein Potential – und das wird politisch längst ausgenutzt. Nach meiner Einschätzung nach ist es allerdings noch nicht vollständig abgeschöpft. Die jüngere Radikalisierungsdynamik in der Gesellschaft wird sich fortschreiben.
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Der Mord an Walter Lübcke ist jetzt mehr als vier Jahre her. Ist dieses Verbrechen aus Ihrer Sicht in der Öffentlichkeit angemessen zur Kenntnis genommen worden?
Mokros: Walter Lübcke ist auf eine gewisse Weise ein besonderer Fall. Als Mitglied der CDU stand er in der politischen Tradition in Deutschland für eine demokratische Mitte. Als weißer und älterer Mann wurde er zudem der Mehrheitsgesellschaft zugeordnet. Natürlich gab es diesen kollektiven Schockmoment: Wie ist es möglich, dass Rechtsextreme weiterhin morden können? Dennoch kann es nicht darum gehen, nur dem Einzelfall Genüge zu tun. Wir müssen uns bewusst machen: In den vergangenen Jahren gab es Dutzende Morde, die niemanden interessiert haben und über die nicht berichtet worden ist. Es braucht eine konsequente Strafverfolgung rechter Gewalt in Deutschland.
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Rund 35 Prozent der Befragten sagen zumindest teilweise, jüdische Menschen zögen einen Vorteil aus der NS-Vergangenheit. Wie gefährdet sind Jüdinnen und Juden in Deutschland, wenn solche Einstellungen grassieren?
Mokros: Wie gefährdet Jüdinnen und Juden sind, können sie selbst am besten beantworten aus ihrer alltäglichen Wahrnehmung und Erfahrung heraus. Und das tun sie auch bereits seit langem. Sie beklagen die massiven Anfeindungen auf der Straße und im Netz, fordern teilweise wieder mehr Polizeischutz, vor allem aber auch Rückhalt aus der Politik und Zivilgesellschaft. Das Ganze ist so mühselig: Es kommt zu einer Hasstat. Darauf folgt der große Aufschrei...
... Sie denken an das Attentat auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019.
Mokros: Genau. Dann kommt eine kurzzeitige Reaktion, zum Beispiel mehr Polizeischutz. Aber das ist nicht strategisch und nachhaltig gedacht! Niemand fragt danach, woher dieser Hass eigentlich kommt. Es wird immer als Einzeltat behandelt. Dass jüdische Menschen angefeindet werden, nur weil sie Juden sind, darüber wird viel zu wenig gesprochen. Das beunruhigt mich sehr.
Was kann man tun, um diesen Ressentiments entgegenzuwirken?
Mokros: Es gibt aus meiner Sicht zwei Dinge, die wichtig sind. Nummer eins: Im Anschluss an solche Studien wie unserer wird das Problem häufig verharmlost, bagatellisiert, die Ergebnisse werden zurückgewiesen und angezweifelt. 'Das hat nichts mit mir zu tun', heißt es dann oft, 'das sind andere, die rechtsextrem sind'. Dabei müsste sich jeder fragen: Was habe ich für eine Vorstellung von der Gesellschaft? Wie stehe ich zur Demokratie? Ist es vielleicht eine Vorstellung, die bei Rechtsextremen anschlussfähig ist?
Was ist Nummer zwei?
Mokros: Laut unseren Erhebungen stimmen Menschen, die länger zur Schule gehen und höhere Bildungsabschlüsse haben, rechtsextremen Äußerungen seltener zu. Klar, bei denen kommt auch oft eine soziale Erwünschtheit hinzu – die wissen, was diese Einstellungen bedeuten und was sie lieber nicht in Umfragen sagen sollten. Trotzdem ist der Bildungseffekt sehr stark. Das wissen wir seit 20 Jahren – und trotzdem passiert nichts. Auch nicht in der Bildung von Menschen, die kein Abitur gemacht haben. Klar, wir müssen in die Demokratie investieren. Wir müssen Bindungen in der Gesellschaft aufbauen und Vertrauen in Institutionen wiederherstellen. Aber ich glaube, wir müssen noch viel kleiner anfangen.
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Woran denken Sie?
Mokros: Wir müssen in unserem direkten sozialen Umfeld in die Demokratie investieren, und das kann ganz schön ungemütlich werden. Es würde bedeuten, dass wir im Freundeskreis, in der Familie, im Verein und auf der Arbeit anfangen, über Politik zu sprechen. Wir müssten solche Ergebnisse wie aus der Studie diskutieren. Wenn der Nachbar einen antisemitischen Spruch fallen lässt oder die Arbeitskollegin über Migranten herzieht, müssten wir widersprechen. Wir müssten fragen: Wie kommst du eigentlich darauf? Die meisten Menschen vermeiden solche Gespräche, denn die sind anstrengend. Womöglich muss ich in der Folge zu jemandem Abstand nehmen oder sogar emotional mit ihm brechen. Aber: Damit fängt es an. Ich bin überzeugt, dass es das wert ist, dieses soziale Kapital aufzubringen.
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Das lässt sich nicht von oben verordnen. Es muss von den Menschen selbst kommen...
Mokros: Ja, und ich glaube, da fehlt eine gewisse Grundüberzeugung. Demokratie ist und bleibt ein Begriff, der recht leer bleibt. Aber er muss gefüllt werden mit Inhalten, mit Werten, mit Normen, mit Institutionen, mit Menschen, die daran glauben und die wissen, wofür sie einstehen wollen.
Das dürfte für viele Menschen nicht besonders spannend klingen.
Mokros: Das ist ein grundsätzliches, aber entscheidendes Problem: Wir müssen diesen Begriff mit Leben füllen. Umgekehrt soll nicht alles "demokratisiert" werden und "Demokratie" sein – eine inflationäre Verwendung des Wortes will ja auch niemand. Aber der Begriff muss handfest werden.
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Es gibt noch eine andere Zahl aus der Mitte-Studie, die aufhorchen lässt: 34 Prozent der Befragten meinen, Geflüchtete kämen nur nach Deutschland, um das Sozialsystem auszunutzen. Dabei brauchen wir laut Arbeitsagentur jährlich 400.000 Zuwanderer gegen den Fachkräftemangel. Wie passt das zusammen?
Mokros: Wir haben in unserem Buch ein Schlaglicht geworfen auf die Arbeit der Ausländerbehörden. Bei denen müsste man anfangen, etwas zu verändern – denn sie sind die erste Instanz, die darüber entscheidet, wer bleiben darf. Die Behörde versteht sich nicht als Dienstleisterin gegenüber Migranten oder Asylbewerbern, sondern als Erlaubnisgeberin auf der Grundlage von Gesetzen. Natürlich herrscht da ein starkes Machtgefälle gegenüber den Migranten und Geflüchteten. Die Flucht- und Migrationsbewegungen haben zuletzt wieder stark zugenommen, die Behörden kommen an ihre Belastungsgrenzen. Das wirkt sich auch auf den Umgang mit den Betroffenen aus. Die Behörden sollten selbst darüber nachdenken, wie sie sich neu aufstellen müssen. Sie müssen die Frage beantworten: Was können wir tun, damit die Abläufe im Sinne und für eine moderne Migrationsgesellschaft wie Deutschland sie ist besser funktionieren?
Und gleichzeitig arbeiten auch in den Ausländerbehörden Menschen mit genau den rechtsextremen Einstellungen, die Sie in der Studie abgefragt haben...
Mokros: Natürlich muss sich die Behördenleitung zu einer bestimmten Haltung gegenüber den Menschen bekennen, mit denen sie tagtäglich zu tun haben. Und diese dann auch bei den Mitarbeitenden vorleben. Die Menschen dort kommen in ihre Jobs und bringen ihre eigenen Erfahrungen und Überzeugungen mit und werden dann mit den Schicksalen von Migrantinnen und Geflüchteten konfrontiert. Denkbar, dass sie selbst auch annehmen, dass die Antragsteller nur hier sind, um Sozialsysteme auszunutzen. Wenn das aber die Grundhaltung ist, werden wir uns nie als Migrationsgesellschaft verstehen, in der Menschen nun einmal kommen und gehen. Dabei hat es immer Migrationsbewegungen gegeben, und es ist totaler Quatsch, eine Nation als ethnisch homogene Gesellschaft zu betrachten. Migration ist nicht zu verhindern.
Ihr Institut und die Friedrich-Ebert-Stiftung führen die Studie schon sehr lange durch, fast 20 Jahre. Trägt die Politik den Ergebnissen genug Rechnung?
Mokros: Wir hoffen, dass demokratisch gewählte Politikerinnen und Politiker auf solche Ergebnisse schockiert reagieren! Ich rechne aber damit, dass das eine Momentaufnahme bleibt. Leider, denn unterm Strich sind die Tendenzen lange bekannt, und man würde denken, dass daraus mal eine entsprechende Politik entsteht. Stattdessen sollen in der politischen Bildung massiv Gelder gekürzt werden, auch wegen der aktuell angespannten Krisenlage. Wir sollten ein echtes Interesse daran haben, Menschen zu mündigen Mitgliedern der Gesellschaft bilden und heranziehen zu wollen. Keine demokratische Gesellschaft kann funktionieren, ohne ihre Mitglieder im weitesten Sinne des Wortes politisch zu bilden. Wenn wir aber an der Stelle sparen, dann haben wir irgendwann vielleicht keine stabile Demokratie mehr.