Berlin. Die Umfragewerte der AfD steigen weiter. Extremismus-Experte Peter Neumann erklärt die Gründe und sagt, wie radikal die Wähler sind.
Der Politikwissenschaftler Peter Neumann beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren mit Radikalisierungsprozessen und Extremismus. Sein jüngstes Buch „Logik der Angst“ (Rowohlt Berlin) seziert den Aufstieg des Rechtsextremismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern in den vergangenen Jahren.
Im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt er, warum die AfD gerade so erfolgreich ist, was die Partei wirklich will und demokratische Wettbewerber jetzt tun sollten.
Herr Neumann, die AfD lag nach der Bundestagswahl recht lange bei 10, 11 Prozent. Und dann begann im vergangenen Herbst ein steiler Aufstieg in den Umfragen. Was passiert da?
Peter Neumann: Die Grundstimmung ist geprägt durch viele Krisen in den letzten Jahren, angefangen bei der Migrationskrise 2015/16 über Corona, den Ukraine-Krieg, die Klimakrise und zuletzt die Inflation. Da kam eine Geschichte nach der anderen, die Verunsicherung und Verängstigung ausgelöst haben. Die Leute haben nicht das Gefühl, dass die Regierung das in den Griff bekommt. Und sie haben auch nicht das Gefühl, dass die Opposition, die Union, das kann. Das schafft einen Nährboden für rechtsextreme Akteure. Die sagen, wir haben eine einfache Lösung, und lenken dieses diffuse Gefühl von Verunsicherung in ihre eigene ideologische Richtung. Gegen die Fremden, gegen die liberalen Eliten. Es sind seit 200 Jahren immer dieselben Sündenböcke, auf die die extreme Rechte zielt.
Ist ein Ende dieser Entwicklung absehbar?
Neumann: Das kommt erst dann, wenn die etablierten Parteien sich zusammenraufen. Sie müssen jetzt den Ernst der Lage erkennen und aufhören, politische Spielchen zu spielen, bei denen man sich gegenseitig die Schuld gibt. In einer Situation, wo demokratiefeindliche Parteien erstarken, muss man gemeinsam versuchen, Probleme zu lösen. Dazu gehört auch das Migrationsproblem, auch wenn das vielleicht eine unangenehme Botschaft für linke Parteien ist. Das beunruhigt viele Menschen, und sie haben das Gefühl, die etablierten Parteien machen nichts, machen etwas Negatives, oder versuchen, gar nicht drüber zu sprechen. Wenn man da eine konstruktive, humane Lösung finden würde, würden der AfD viele Wähler verloren gehen.
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Die AfD als „Schlechte-Laune-Partei“ zu ignorieren, wie Olaf Scholz das versucht, ist also eher kein vielversprechender Ansatz?
Neumann: Mit der „Schlechte-Laune-Partei“ spricht er die Logik der Angst an. Die AfD artikuliert die schlechte Laune der Bevölkerung, verstärkt sie und leitet sie in die eigene ideologische Richtung. Das löst man nicht dadurch, dass man es ignoriert oder sich lustig darüber macht. Das löst man, indem man versucht, die Gründe für die schlechte Laune zu verstehen und daran etwas zu ändern. Die AfD hat keine Lösungen anzubieten. Was sie anbietet, ist ein Zurück in die Zukunft. Sie sagen, ihr könnt ein Leben haben wie in den 80ern, 90ern. Das ist illusorisch, aber sehr verführerisch.
Objektiv ist die Lage, auch für die meisten AfD-Wähler, nicht so schlecht. Trotzdem wählen sie eine Partei, die ein Bild malt von Deutschland am Abgrund …
Neumann: Leute, die rechte oder rechtspopulistische Parteien wählen, kommen häufig aus der unteren Mittelklasse und haben Verlustängste. Da geht es um finanzielle Ängste, aber auch um Themen wie Identität, Wertschätzung, Würde. Der sprichwörtliche weiße alte Mann in Ostdeutschland guckt sich an, was die Regierung macht, und denkt: Für mich machen die nichts. Im Gegenteil, mein Auto ist jetzt schlecht fürs Klima, meine Ölheizung soll ich austauschen und ich darf noch nicht mehr mal so sprechen, wie ich das immer getan habe. Die fühlen sich nicht privilegiert, sie fühlen sich unter Druck. Und dann gibt es mit der AfD eine Partei, die sagt: Wir sind wie du, hier muss sich gar nichts ändern und du musst es auch nicht. Das nicht ernst zu nehmen, dem alten weißen Mann nicht zu erklären, wie auch er von den Entwicklungen profitiert, warum auch er gemeint ist, das ist ein Fehler.
Wie radikal sind die Leute, die jetzt in Umfragen sagen, sie würden AfD wählen?
Neumann: Allensbach hat vor Kurzem eine Untersuchung vorgestellt, nach der knapp die Hälfte Protestwähler sind. Die haben kein geschlossen rechtes Weltbild. Einen großen Teil der Wähler kann man wieder zurückholen. Der Wählerstamm, der schon bei der letzten Bundestagswahl für die Partei gestimmt hat, als sie vergleichsweise schwach waren, das sind allerdings Überzeugungstäter.
Und wie radikal ist die Partei?
Neumann: Die AfD ist mittlerweile eine antidemokratische Partei. Die AfD ist rechtsextrem. Ihre Wähler sind es nicht zu 100 Prozent. Der Trick ist, die Wähler anzusprechen, nicht mit der AfD zusammenzuarbeiten. Mit der Partei kann es keine Zusammenarbeit geben. Deswegen ist es wichtig zu verstehen und zu erklären, was die AfD beabsichtigt. Die Partei will eine Art illiberale Demokratie nach ungarischem Vorbild auch in Deutschland. Sie arbeitet auf eine schrittweise Aushöhlung der Demokratie hin: Stück für Stück würden alle Kontrollinstanzen, wie die Medien, das Parlament, die Gerichte, untergraben, mit eigenen Leuten besetzt und in ihren Rechten beschnitten werden. Bis am Ende nur noch die Exekutive bleibt und, so wie in Ungarn, machen kann, was sie will.
Besonders unter Druck, einen Umgang mit der AfD zu finden, ist die CDU. Wie stabil ist die Brandmauer?
Neumann: Ich glaube, dass die im Westen sehr stabil ist, im Osten sieht man deutliche Risse. Das ist für die Führung der Partei eine riesige Herausforderung. Gerade im Osten gibt es die antidemokratischsten Landesverbände der AfD. Denen Vorschub zu leisten, nützt der eigenen Position nicht. Man setzt vielleicht kurzfristig ein eigenes Projekt durch, aber langfristig werden Parteien der Mitte von dieser ideologisch stärkeren Kraft aufgefressen. Und das Aufweichen der Brandmauer im Osten strahlt aus auf den Westen. Es darf deshalb keine Kooperation geben mit einer antidemokratischen Partei.
Ist die Abstimmung in Erfurt der Dammbruch, von dem die politische Konkurrenz spricht?
Neumann: Ich glaube nicht, dass es ein Dammbruch ist. Aber es wird in anderen Teilen Deutschlands so wahrgenommen. Bei den Landtagswahlen im kommenden Jahr wird es in Ostdeutschland sehr schwer, demokratische Mehrheiten zu organisieren, wenn die AfD über 30 Prozent kommt. Da liegt sie im Moment in den Umfragen. Dann ist die Gefahr groß, dass es tatsächlich zu einem Dammbruch kommt. Oder dass wir eine Situation haben, in der die Regierungsgeschäfte in einem Bundesland völlig paralysiert sind und nichts mehr vorangeht. Das ist für die Demokratie auch nicht gut. Auch das wird die AfD für sich zu nutzen wissen.
Sollte die AfD verboten werden?
Neumann: Die AfD zu verbieten, ist nichts, was das Problem jetzt löst. Bei einem solchen Verfahren vergehen Jahre, das hat man beim NPD-Verfahren gesehen. Und in der Zwischenzeit spielt das Narrativ des Verbots der AfD in die Hände. Diese Diskussion ist eine totale Scheindiskussion.
Sind wir an einem Punkt, wo unsere Demokratie in Gefahr ist?
Neumann: In Gefahr noch nicht, aber ganz erheblich unter Druck in Ländern Ostdeutschlands. Und ich glaube auch, dass die demokratischen Parteien den Ernst der Lage noch nicht verstanden haben. Sie spielen die politischen Spiele der Vergangenheit einfach weiter. Das interessiert viele Leute nicht, es stößt sie sogar ab.
Letztens hat ein Fall aus Brandenburg Schlagzeilen gemacht, als zwei Lehrkräfte rechtsextreme Vorfälle öffentlich gemacht haben – und das Ergebnis war, dass die beiden die Schule verlassen haben. Wo setzt man an in Orten, in denen rechtsextremes Gedankengut offenbar so Mainstream ist?
Neumann: Das ist die größte Herausforderung. Das wird in allen ostdeutschen Bundesländern zum Riesenproblem, auf allen Ebenen und auch in allen staatlichen Institutionen. Man muss davon ausgehen, dass dann auch bei der Polizei oder dem Verfassungsschutz AfD-Sympathisanten sitzen. Da stößt auch ein Extremismusforscher an seine Grenzen – denn meine Grundannahme ist, dass es sich bei den Extremisten um eine Minderheit an den Rändern der Gesellschaft handelt. Wenn diese Positionen aber Mainstream werden, sind eigentlich alle Rezepte, die wir im Laufe der Jahrzehnte entwickelt haben, wirkungslos. In Teilen Ostdeutschlands ist das eine Generationenaufgabe, das wieder zurückzurollen und dafür zu sorgen, dass demokratische Parteien wieder die Deutungshoheit haben. Da hat man in den letzten 30 Jahren viel versäumt.
Sie forschen intensiv auch zu islamistischem Extremismus und Terror. Was kann man aus dem Umgang damit lernen für den Umgang mit der AfD?
Neumann: Man muss eine doppelte Strategie fahren: Man muss einerseits das Angebot bekämpfen, die extremistischen Akteure, die sich organisieren, die Leute rekrutieren und auch an Gewaltausübung beteiligt sind. Aber man muss auch die Nachfrage bekämpfen. Die Nachfrage besteht eben aus Leuten, die sehr verunsichert sind, Angst haben. Diese Ängste zu adressieren, ist die große Aufgabe der Politik.
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