Berlin/Pirna. Eine neue Ostroute über Russland und Belarus bringt zunehmend Geflüchtete nach Deutschland. Innenminister sagt: Moskau steckt dahinter.
Der Morgen ist gerade angebrochen, als der Schmuggel auffliegt. Bundespolizisten halten um 6.50 Uhr am vergangenen Mittwoch den VW Transporter an, hier auf dem Rastplatz „Am Heidenholz“ im Süden Sachsens, die erste Ausfahrt auf der A17. Die tschechische Grenze ist gerade einmal fünf Kilometer entfernt. Die Grenzbeamten entdecken 27 Syrer auf der Ladefläche. Und sie nehmen zwei mutmaßliche Schleuser fest, einen Mann und eine Frau aus Rumänien. Sie kommen in Gewahrsam, die Staatsanwaltschaft Dresden ermittelt. Die Geflüchteten bringt die Polizei in die Erstaufnahmeeinrichtung, sie alle beantragen Asyl.
Dieser Mittwoch ist ein Tag für die Bundespolizisten, der wie kaum ein anderer zuletzt klarmacht, wie stark der Zuzug von Geflüchteten über die Ost-Route derzeit ist. 16 Mal rücken die Beamten an diesem Tag aus, insgesamt registrieren sie 132 Menschen, die allermeisten aus Syrien, andere aus der Türkei oder dem Irak, manche sind Palästinenser. Und sie nehmen mutmaßliche Schleuser fest, darunter Männer aus der Türkei, Syrien, Polen, Georgien – und immer wieder auch aus der Ukraine.
Der Fokus der Schlagzeilen liegt in diesen Tagen auf der kleinen Mittelmeer-Insel Lampedusa. Tausende Schutzsuchende sind dort gestrandet, sie kommen aus Afrika und Nahost und sind in brüchigen Booten aus den Maghrebstaaten in See gestochen. Doch wer mit Innenministern, Grenzpolizisten und Flüchtlingshelfern spricht, hört noch von einer anderen Route, die derzeit stark vom Zuzug von Geflüchteten geprägt ist: die sogenannte Ost-Route. Über Russland und Belarus, dann nach Polen und Tschechien – und weiter nach Deutschland. Die Menschen kommen aus Syrien, Türkei, aber auch Irak und Afghanistan.
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Meldungen der Polizei der vergangenen Wochen: „Spur zu georgischen Schleusern führt nach Polen“. Oder: „Ukrainische und polnische Schleuser in Untersuchungshaft“. Oder: „63 unerlaubte Einreisen bei Forst festgestellt“. Fast täglich melden die Grenzbeamten Fälle.
Vor allem in den vergangenen Monaten steigen die Asylzahlen in Deutschland. Bis August registrierte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) 204.461 Anträge auf Schutz. 2022 waren es im gesamten Jahr nur wenig mehr, 217.000. Die meisten kommen über die Mittelmeer-Route nach Deutschland, einige auch über die Türkei nach Griechenland und dann über den Balkan nach Westeuropa.
Doch vor allem die Ost-Route wächst offenbar. Rund 21.000 unerlaubte Einreisen meldet die Polizei laut Bundesinnenministerium von Januar bis Juli an den deutschen Grenzen zu Polen und Tschechien. Mehr als doppelt so viele wie im vergangenen Jahr. Das sind Geflüchtete, die über Griechenland und den Balkan kommen. Es sind vor allem auch Menschen, die irregulär aus Belarus in die EU einreisen.
Gerade zuletzt, so erzählen es Bundespolizisten, boomt die Route. Die Zahlen sind weit unter dem Niveau von 2015 und 2016. Doch jede Woche sind es Hunderte Schutzsuchende, die Polizisten entdecken. Manchmal auch Hunderte an einem einzigen Tag.
„Hinter den wachsenden Migrationszahlen steht eine Kampagne von Russland“
Erinnerungen werden wach an 2021. Belarus-Diktator Lukaschenko verteilt Tausende Visa in Nahost, vor allem im Irak, und Menschen fliegen mit belarussischen Airlines nach Minsk. Auf einmal sind Tausende an der Grenze zu Polen, wollen in die EU. Menschen werden in Bussen an die Grenze gekarrt, müssen bei Minusgraden, Schnee und Nässe in Wäldern ausharren, es fehlt an Trinken, Essen, Decken und Zelten.
Belarussische Grenzbeamte lassen die Geflüchteten passieren, polnisches Militär drängt die Menschen zurück, verfolgt sie in den Wäldern, nimmt Gruppen auf, die es bis durch den Grenzkorridor geschafft haben. Es soll auch zu illegalen „Pushbacks“ durch polnische Grenzer gekommen sein.
Die Regime in Moskau und Minsk machen in diesen Wochen 2021 Migration zum Druckmittel – ohne Rücksicht auf Menschenleben wird Flucht politisch missbraucht. Und danach sieht es auch jetzt aus, sagt etwa Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD) unserer Redaktion. „Hinter den wachsenden Migrationszahlen über Osteuropa steht eine gezielte Kampagne von Russland und Belarus“, sagt Maier. „Die Autokraten in Moskau und Minsk wollen Deutschland destabilisieren – und sie nutzen dafür auch Migration als Druckmittel.“
Seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine sind die Wege aus Europa nach Russland gekappt, Fluglinien haben ihre Dienste eingestellt. Wer aus Berlin nach Moskau will, muss oft über die Türkei. Denn von dort fliegen Airlines auch jetzt noch regelmäßig und direkt. Das nutzen offenbar auch Schleusernetzwerke – und schicken Menschen aus Syrien, Irak oder Afghanistan in Flugzeugen aus der Türkei nach Russland.
Von dort, so analysieren es Bundespolizisten mit Hilfe von Befragungen der Geschleusten und Auswertungen ihrer Handys, geht die Reise offenbar weiter: durch Russland nach Belarus, weiter nach Lettland, Polen oder Tschechien bis an die deutsche Grenze. Auch Erkenntnisse der polnischen Polizei fließen in die deutschen Lagebilder mit ein. „So viele Menschen in so kurzer Zeit können nur organisiert fliehen, zumal durch Diktaturen wie Belarus oder Autokratien wie Russland“, sagt Innenminister Maier.
Lettland schloss am Dienstag einen der beiden Grenzübergänge nach Belarus
In dieser Woche melden die lettischen Behörden Rekordzahlen von Schutzsuchenden aus Belarus: In drei Tagen wurden knapp 500 Menschen an der Grenze registriert. Allein Sonntag seien 246 unerlaubte Einreisen aufgefallen. Lettland schloss am Dienstag einen der beiden Grenzübergänge nach Belarus für den Reiseverkehr, verschärft die Kontrollen. Nachbar Estland schickt Grenzbeamte zur Hilfe.
Offenbar nutzt ein Teil der Schlepper auch den Weg von Russland über die Ukraine nach Polen, in die EU. Davon gehen jedenfalls die Innenbehörden in Brandenburg aus, die das Gros der ankommenden Migranten registrieren und befragen. Kriegsflüchtlinge aus Syrien werden dann durch das Kriegsgebiet Ukraine geschleust, um im friedlichen Europa anzukommen.
Im Juli starb eine Frau bei einem Unfall mit einem Schleuser auf der A17
Es ist ein Indiz dafür, dass die Methoden der Fluchthelfer brutaler werden. Das jedenfalls registrieren die Sicherheitsbehörden. „Die Professionalität und Gewaltbereitschaft der Schleuser nehmen zu“, schreibt das Bundesinnenministerium auf Nachfrage unserer Redaktion. Die Schleusernetzwerke würden schnell reagieren, etwa auf Grenzkontrollen und Visaänderungen. Zugleich transportieren die Schleuser Menschen auf völlig überfüllten Ladeflächen, bringen sie durch waghalsige Fahrten in Gefahr und gefährden auch andere Verkehrsteilnehmer, fliehen vor Kontrollen, rammen andere Autos, überschreiten Tempolimits, verursachen Unfälle. Im Juli starb eine Frau nach Auskunft der Bundespolizei in Pirna bei einem solchen Crash auf der A17.
Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) berichtet unserer Redaktion: „Wir haben jede Nacht an den Grenzen zu Tschechien und Polen dramatische Fluchtszenen. Es geht um halsbrecherische Fahrten der Schleuser auf deutschem Hoheitsgebiet. Man muss sich vorstellen, dass die Schleuser die Menschen, die sie transportieren, schlicht als Ware behandeln.“
Und die organisierten Fluchthelfer passen ihre Routen an: Nehmen die Kontrollen durch die Polizei an einem Abschnitt zu, wechseln sie die Wege. So steigen zuletzt in Sachsen etwa die irregulären Einreisen über Tschechien, viele von den Geflüchteten kommen hier nun wieder über die Balkan-Route. Länder, Grenzen und sogar autoritäre Regime in Belarus oder Russland – all das scheint für die Netzwerke der Schleuser kein Hindernis mehr zu sein. Im Gegenteil. Äußerungen von Politikern wie Innenminister Maier legen eine Zusammenarbeit von Kriminellen und Regierenden wie in Russland nahe. „Wir sehen gezielte Instrumentalisierung der Migration durch Staaten wie Russland und zugleich eine Professionalisierung der Schleusergruppen.“
Ermittlungen der Dresdner Staatsanwaltschaft geben Einblick in das Geschäft mit der Flucht. So würden „Transportorganisationen“ den Kontakt zu den Flüchtlingen herstellen und die Routen organisieren. In „Vertrauensbüros“ legen die Migranten dann das Geld zurück, in der Regel zwischen 6000 und 10.000 Euro pro Person – in Einzelfällen noch mehr. Nachdem die Schlepper die Ankunft in Deutschland mit einem Video an die Hinterleute dokumentieren, fließt das Geld, etwa an die Fahrer. Schlepper, die von der Bundespolizei aufgegriffen werden, sind oft nur die Helfer. Die Drahtzieher sitzen weit weg, etwa in der Türkei – und offenbar auch in Russland.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) lehnt feste Grenzkontrollen bisher ab
Die Politik reagiert unterschiedlich auf die wachsenden Asylzahlen. „Jetzt brauchen wir Grenzkontrollen und zwar schnell und konsequent - so lange, bis die EU mit dem Schengener Abkommen wieder funktioniert“, sagt etwa Sachsens Minister Schuster. Stationäre Kontrollen, so wie es sie bisher an der Grenze von Bayern zu Österreich gibt – mit verpflichtender Zustimmung der EU. „Die entsprechenden Signale aus Berlin fehlen aber in Richtung Brüssel, auch in Richtung unserer Nachbarn“, kritisiert Schuster.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) lehnt feste Grenzkontrollen bisher ab. Brandenburg etwa handelt nun auf eigene Faust, will nach Angaben von Innenminister Michael Stübgen (CDU) teilstationäre und mobile Kontrollen an der Grenze zu Polen einrichten. Mit eigenen Polizeieinheiten, aber in Absprache mit der Bundespolizei, die für den Grenzschutz in Deutschland verantwortlich ist.
Nicht alle in der Polizei sind überzeugt von festen Grenzkontrollen. Der Personalaufwand sei enorm hoch, zugleich würden die Schleuser dann einfach andere Straßen nehmen, heißt es in der Gewerkschaft der Polizei (GdP). Und die Linkspartei vermutet, das stationäre Grenzkontrollen auch in Deutschland dazu führen, dass Geflüchtete zurückgedrängt werden – ohne Asylverfahren, das ihnen zusteht.
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So hat eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag an das Innenministerium ergeben, dass im ersten Halbjahr 2023 in Bayern nur 17 Prozent der aufgegriffenen Migranten ein Schutzgesuch stellten. Zum Vergleich: An der Grenze zu Polen und der Schweiz, wo es keine festen Kontrollen gibt, sind es mehr als 40 Prozent. Tatsächlich fallen die niedrigen Asylgesuche in Bayern auf. Ein Grund ist zudem nicht ersichtlich, warum etwa Syrer ausgerechnet dort weniger Anträge auf Schutz stellen sollten. Die Linkspartei spricht von „rechtswidriger Pushback-Praxis der Bundespolizei“.
Einzelne Geflüchtete und auch Hilfsorganisationen hatten zuletzt ähnliche Vorwürfe erhoben. Die Behörden weisen die Vorwürfe zurück, man achte auf den Asylwunsch und gehe im Zweifel von einem Asylgesuch aus, heißt es bei der Polizei. Eine Untersuchung durch den Bund, die die Vorwürfe bestätigen oder entkräften könnte, gibt es bislang nicht.
Es zeigt, wie umstritten die Grenzpolitik trotz wachsender Asylzahlen ist. Thüringens Innenminister Georg Maier sieht in „Obergrenzen für Asyl“ oder stationären Grenzkontrollen keine Lösung. Stattdessen sagt er: „Wir brauchen endlich ein gemeinsames europäisches Asylsystem, das die Menschen in Europa gerecht verteilt und Staaten wie Italien und Deutschland entlastet.“ Zugleich fordert Maier ein „klares Stoppzeichen“ der EU in Richtung Russland und Belarus. „Einen Missbrauch der Menschen in Not durch die Regierungen in Russland und Belarus dürfen wir nicht tolerieren.“ Die Grenzschützer von Polen brauchen laut Maier „mehr Rechte von der EU, um illegale Einreisen zu unterbinden, die Asylverfahren vor Ort schnell durchzuführen und dann auch gezielt direkte Rückführungen an der Grenze vorzunehmen“.
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