Berlin. Ob lesbisch oder trans: Queeres Leben ist weltweit bedroht. Wo ist es besonders schlimm – was macht Hoffnung? Der Überblick zeigt es.
"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." So steht es in Artikel 1 der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen. Was 1948 auch unter dem Eindruck deutschen Vernichtungswahns verabschiedet wurde, galt für Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans*, intergeschlechtliche und queere Menschen (LSBTIQ*) lange nicht. Bis 1992 galt Homosexualität der Weltgesundheitsorganisation WHO als Krankheit.
Seither hat sich die Menschenrechtslage zwar verbessert. Im Ganzen betrachtet ist die Welt aber kein Ort, an dem queere Menschen gefahrlos leben können. Im Gegenteil: "Leider droht auch 2023 LSBTIQ* in mehr als 60 Staaten immer noch Haft, Folter und in mindestens sechs Ländern sogar die Todesstrafe", sagt René Mertens vom Lesben- und Schwulenverband (LSVD) unserer Redaktion.
Wo diese Gesetze nicht umgesetzt werden, "befördern Hass und Hetze gegen alles, was nicht heterosexuell erscheint". Angriffen und Folter seien queere Menschen oft schutzlos ausgeliefert, da sie sich nicht an die Polizei wenden können – aus Angst vor Gewalt. Wo ist es besonders schlimm? Unser Überblick zeigt es.
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Russland: "Es wird nie wieder so sein, wie früher"
"Es gibt keine Hoffnung. Es wird nie wieder so sein, wie es früher war", sagt der 43jährige Denis aus Omsk. Er ist nach Kasachstan geflohen. Denis befürchtet das Schlimmste, würde er als schwuler Mann in die Armee eingezogen.
Die gesamte russische Gesellschaft ist mehrheitlich homophob. Homosexualität galt in Russland bis 1993 als Verbrechen, als Perversion. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Laut einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Instituts vom Oktober 2021 sind 69 Prozent aller Russen gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen.
Diese homophobe Haltung findet sich auch in der Gesetzgebung wieder. Seit einiger Zeit ist "LSBTIQ*-Propaganda" – gemeint ist Aufklärung – verboten. Zuletzt unterzeichnete Kremlchef Wladimir Putin das nächste umstrittene Gesetz. Russen, die sich mit ihrem Geschlecht nicht identifizieren, dürfen sich nicht mehr chirurgischen Eingriffen unterziehen oder Hormone verschreiben lassen.
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USA: Trans Menschen im Visier der Gesetzgeber
In den USA, so hat die Bürgerrechts-Organisation ACLU haarklein ermittelt, wurden im Jahr 2023 über 500 Gesetzentwürfe in den Regional-Parlamenten eingebracht, die sich gegen LSBTIQ* richten. 75 Gesetze sind bereits in Kraft getreten. Besonders im Visier: trans Menschen.
Zwei Dutzend Bundesstaaten, in der Regel republikanisch beherrscht, haben verboten, dass Jugendliche, die eine Geschlechtsumwandlung anstreben, dies unter seriöser ärztlicher Leitung tun können. In weiten Teilen Amerikas werden trans Jugendliche von sportlichen Wettkämpfen ausgeschlossen, vielerorts ist der Toilettenbesuch schon unter Strafandrohung verboten.
Andere Gesetze, hier hat Florida unter Gouverneur und Präsidentschaftskandidat Ron DeSantis die Führerschaft übernommen, zielen darauf ab, LSBTIQ*-Themen aus den Schulen zu verbannen. Auch Dragshows sind Zielscheibe von gesetzlichen Aktivitäten geworden. Kritik aus dem Weißen Haus an solchen Gesetzen verhallt ungehört.
Die Gefahr für LSBTIQ* ist in den USA real – so sehr, dass die kanadische Regierung eine Reisewarnung für einige Teile des Landes herausgegeben hat. In einem auf der Webseite des Außenministeriums veröffentlichten Hinweis werden die betroffenen Reisenden aufgefordert, "staatliche und örtliche Gesetze und Richtlinien zu überprüfen", die Mitglieder der LSBTIQ*-Gemeinde betreffen könnten.
China: Kommunisten engen queeren Spielraum ein
Im Mai musste die letzte große NGO ihre Pforten schließen: Das "Beijing LGBT Center", das vielen jungen Menschen eine soziale Heimat bot, gab nach 15 Jahren Betrieb seine Auflösung bekannt. Den Grund für die Zwangsschließung darf die Organisation nicht öffentlich bekanntgeben.
Seit Staatschef Xi Jinping an der Macht ist, gibt es eine flächendeckende Repressionswelle gegenüber der LSBTIQ*-Szene – von Online-Foren bis hin zu Studierenden-Clubs an Universitäten. Dabei richtet sich die staatliche Kontrollwut nicht speziell gegen sexuelle Minderheiten. Sie zielt gleichermaßen auf die Frauenbewegung wie Umweltaktivisten oder Menschenrechtsanwälte ab.
Nach wie vor gibt es in den großen Städten wie Shanghai und Peking weiterhin schwule Nachtclubs oder Bars, in denen Dragqueens ihre Shows aufführen. Auch hat die LSBTIQ*-Gemeinschaft ihre eigenen Dating-Apps, die bislang nicht Opfer der Zensur wurden. Der Spielraum des Erlaubten wird allerdings immer enger: Nicht-heteronormative Genderrollen sollen möglichst verdeckt stattfinden.
Afrikanischer Kontinent: Imperialisten brachten legalisierte Homophobie
Auf dem kulturell und ethnisch sehr diversen afrikanischen Kontinent gilt queeres Leben vielerorts als unafrikanisch. Zwar gibt es Ausnahmen, Angola etwa oder Südafrika, das gleichgeschlechtlichen Paaren die Ehe und Adoption erlaubt. Nigeria und Somalia aber können die Todesstrafe verhängen, von Marokko bis Ägypten drohen lange Haftstrafen.
Unlängst traf es in Nigeria 200 Männer, die die Polizei in einem Hotel nahe der Küstenstadt Warri festgenommen hat. Sie hätten "Frauenkleider" getragen und eine "Schwulenhochzeit" gefeiert, hieß es von der Polizei. Den Männern drohen bis zu 14 Jahre Haft.
Das war keineswegs immer so. Die ugandische Rechtswissenschaftlerin Sylvia Tamale beschreibt die Geschichte Afrikas in einem Essay als "voller Beispiele sowohl erotischer als auch non-erotischer Gleichgeschlechtlicher Beziehungen". Sie verweist auf homoerotische Höhlenmalereien oder die mudoko dako, feminine Männer aus Uganda, denen die Ehe mit einem Mann gestattet war. Nicht Homosexualität, so Tamale, sei "unafrikanisch", sondern die legalisierte Homophobie, "die von den Imperialisten nach Afrika gebracht wurde".
"Dieses koloniale Gift wirkt bis heute, wie die jüngsten Strafverschärfungen gegen LSBTIQ* in Uganda zeigen", sagt Mertens vom LSVD. "Queere Menschen sind dort von der Todesstrafe bedroht, Menschen die queere Organisationen unterstützen, droht jahrelange Haft."
Mehrere Anklagen und Urteile nach dem neuen Gesetz hat es bereits gegeben, zuletzt Ende August. Ein 20-Jähriger wird beschuldigt, "illegale sexuelle Aktivitäten" mit einen "behinderten Mann" eingegangen zu sein; laut Gesetz ein Fall von "schwerer Homosexualität" – auf das die Todesstrafe steht.
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Arabische Halbinsel und Mittlerer Osten: Sharia ist tödliche Gefahr
Die von Sharia-Recht geprägten Länder zwischen dem Roten Meer und dem Himalaya zählen für LSBTIQ* zu den gefährlichsten der Welt. Saudi-Arabien, der Irak, Afghanistan und Pakistan können gleichgeschlechtlichen Sex mit dem Tod bestrafen und bedrohen queere Menschen mit anderen schweren Strafen.
Saudi-Arabien etwa lässt Menschen auspeitschen, die sich nicht geschlechtskonform Kleiden. Im Iran wurden zuletzt zwei lesbische Aktivistinnen zum Tode verurteilt, unter anderem weil sie "Werbung für Homosexualität" verbreitet haben sollen. Zahra Sedighi Hamedani und Elham Choubda kamen im März 2023 gegen hohe Kautionszahlungen frei, ihre Prozesse gehen aber weiter.
Gleichzeitig leben queere Menschen ihre Bedürfnisse oft im Untergrund aus. In Saudi-Arabien etwa auf illegalen Raves oder über Dating- und Messenger-Apps im Internet.
Queerer Globus: Alles schlecht?
Zuletzt ist auch die Menschenrechtsfestung Europa kein Ort, an dem queeres Leben ungehindert florieren darf. "Fortschritte bei der rechtlichen und politischen Anerkennung von LSBTIQ* werden immer wieder von queerfeindlichen Ideologien und Stimmungsmache überschattet", sagt Mertens. Er nennt EU-Staaten wie Ungarn und Italien, das Adoptionsrechte gleichgeschlechtlicher Paare demontiert.
Auch in Deutschland sei queeres Leben noch immer nicht sicher. "Mehr als die Hälfte der queeren Jugendlichen in deutschen Schulen trauen sich auch heute aus Angst vor Anfeindungen nicht out zu sein." Regenbogenfahnen würden gegen Hakenkreuzflaggen getauscht, queere Menschen an CSD-Demos bespuckt. Queerfeindliche Hasskriminalität steige seit Jahren, das unwürdige Transsexuellengesetz gehöre abgeschafft. "Das alles zeigt gut, wo wir stehen." Immerhin: Letzteres hat die Ampel mit dem Selbstbestimmungsgesetz jüngst in Angriff genommen. Lesen Sie dazu den Kommentar: Selbstbestimmung: Wir brauchen Reformen für das "Ich"
"Es wird besser", sagt Mertens und stellt klar, die queere Gemeinschaft lasse sich nicht mehr einschüchtern. "Queere Menschen werden sich nicht wieder verstecken. Wir gehen selbstbewusst unseren Weg weiter."
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