Kiew. Die 15-jährige Nastia wird im November 2022 nach Russland verschleppt. Sie kommt in ein Lager – und erlebt, was Umerziehung heißt.

Nastia redet gerne ausschweifend und detailverliebt. Doch dann gibt es Momente, da wird sie sehr knapp, fast schon wortkarg. Sie sitzt in einer Kantine eines ehemaligen Hotels in einem Außenbezirk von Kiew. Ein karger Raum, Tische, Sessel. An der Wand Kisten, Spielsachen, Lernmaterialien, ein Teddybär. Das Haus ist kein Hotel mehr, sondern eine Unterkunft für Kinder und Jugendliche, die eine Odyssee hinter sich haben – so wie Nastia. 15 Jahre ist sie alt.

Tausende Kinder hat Russland seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine verschleppt. Zehntausende wahrscheinlich. Nastia war eines davon. Von 20.000 bestätigten Fällen sprechen ukrainische Stellen. Russland selbst rühmt sich damit, 700.000 ukrainische Kinder vor seiner eigenen Invasion „gerettet“ zu haben – was Russlands Machthaber Wladimir Putin und seiner Kommissarin für Kinderrechte Maria Lvova-Belova einen Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag beschert hat. Nach Ansicht der Anklage hat die Verschleppung ukrainischer Kinder durch Russland System. Maria Lvova-Belova zeigte sich öffentlich stolz darüber, zehn Kinder aus der Ukraine in ihrer Obhut zu haben.

Nach Russland verschleppt: Nastia nennt das fremde Heim ein Gefängnis

Nastia kennt Lvova-Belova. Sie tauchte eines Tages in dem streng bewachten Heim auf, in dem die 15-Jährige untergebracht war. Nastia bezeichnet es als „Gefängnis“. Dort erklärte ihnen Lvova-Belova aber, dass ihnen in Russland alle Türen offen stünden. Es sei sinnlos, der Ukraine nachzutrauern.

Auch mit Junarmija, der Jugendorganisation der russischen Armee, habe sie Kontakt gehabt. Die wollten alle Kinder und Jugendlichen in der Einrichtung davon zu überzeugen, beizutreten. Nastia lehnte ab. „Wir wussten doch, dass alle sofort hinter die Front geschickt werden, um Hilfsarbeit zu leisten.“

Zwischen Nastia und ihrer Mutter verläuft plötzlich die Front

Dass Nastia heute wieder zurück in der Ukraine ist, ist ein Glücksfall. Von den Zehntausenden Kindern, die während des Krieges aus der Ukraine nach Russland verschleppt worden sind, haben es gerade einmal um die 300 zurück auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet geschafft. Denn hinter der Verschleppung stecken ein weit verzweigtes System aus Lagern und Heimen sowie administrative Maßnahmen, die die Nachverfolgung erschweren.

Laut eines Berichts des Humanitarian Research Labs der Yale University werden die Kinder zwischen mindestens 43 Lagern und Heimen in allen Landesteilen Russlands hin und her transferiert. Hinzu kommt eine aufgeweichte Einbürgerungs-Gesetzgebung, durch die verschleppte Kinder rasch eine neue Identität inklusive neuer Geburtsurkunden sowie russischem Pass erhalten.

Nastia verschwand am 4. November 2022. Sie war auf dem Heimweg von einer Familiengeburtstagsfeier in eine russische Kontrolle nahe der damals noch von der russischen Armee besetzten Stadt Cherson geraten. Sie hatte kein Telefon dabei und keinen Ausweis. Es sollte ja nur ein kurzer Besuch sein. Die Kontrolleure nahmen sie mit, dann saß sie zwei Wochen als Gefangene der Russen in einem Keller, wurde immer wieder verhört. In dieser Zeit wurde Cherson von ukrainischen Kräften zurückerobert – und mit einem Mal lag zwischen Nastia und ihrer Mutter in Cherson eine Frontlinie.

Als „Kollaborateurin“ sei sie zunächst verdächtigt worden, erzählt sie. Schließlich wurde sie weggebracht. Sie kam nach Henichesk in eine Art Internat: um sechs Uhr aufstehen, Frühstück um sieben, Schule ab acht inklusive patriotischer Erziehung und Indoktrination in russischem Sinne bis in den Nachmittag. Danach: Hausaufgaben, Abendessen, Zimmer aufräumen, schlafen. Am Montag die russische Fahne hissen, am Freitag die Fahne wieder einholen. Dazwischen täglich die russische Hymne singen. Kotzen müsse sie, wenn sie die russische Hymne heute hören würde, sagt Nastia.

Endlich wieder daheim: Eine Mutter hält ihre Tochter und ihren Sohn fest. Die beiden Kinder waren aus einem Feriencamp in Russland nicht zurück gekehrt.
Endlich wieder daheim: Eine Mutter hält ihre Tochter und ihren Sohn fest. Die beiden Kinder waren aus einem Feriencamp in Russland nicht zurück gekehrt. © Reuters | Valentyn Ogirenko

Als Nastia vom Jungen im Keller erzählt, lächelt sie nicht mehr

Die Anweisungen waren strikt zu befolgen. Wer sich weigerte, wurde bestraft: Treppen putzen – rauf und runter. Wer notorisch aufmüpfig war, kam in den Keller. So, wie dieser eine Junge. Der hatte sich geweigert, die russische Hymne zu lernen. Als Nastia von ihm erzählt, ist das einer dieser Momente, in denen sie wortkarg wird – sie lächelt auch nicht mehr. Ihr Blick wird starr, die Hände vergräbt sie in ihrem Schoß. Als der Junge nach einer Woche wieder aus dem Keller kam, sagt sie, da habe er überall am Körper blaue Flecken und Wunden gehabt. Schweigen.

Henichesk liegt auf dem ukrainischen Festland, nahe der Krim an der Küste zum Asowschen Meer: 18.000 Einwohner hatte die Stadt einmal, ein angenehmes Klima. Für Nastia ist es ein Albtraum-Ort. Das Internat in diesem Lager sei ein Gefängnis gewesen. Auf Gefängnisbetten hätten sie geschlafen. Dann der tägliche Drill. Soldaten der russischen Armee bewachten das Camp. Rausgehen, spazieren gehen, Kommunikation mit der Außenwelt – verboten.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Nastias Geschichte ist die Tausender Kinder und Jugendlicher aller Altersgruppen, die im Zuge dieses Krieges von russischen Kräften verschleppt worden sind. Viele waren Waisen oder aus anderen Gründen in staatlichen ukrainischen Einrichtungen untergebracht; viele wurden an Checkpoints geschnappt; sehr viele wurden über angebliche Erholungsaufenthalte mit dem Einverständnis der Eltern nach Russland gelockt und sahen ihre Eltern nie wieder; viele wurden aber auch ganz gezielt von zu Hause entführt – etwa wenn Elternteile in der ukrainischen Armee dienen oder gedient haben. Oder wenn sie schlicht auf einer Liste pro-ukrainischer Politiker, Beamter oder Aktivisten standen.

Wurden Kinder bereits adoptiert, ist die Rettung kaum möglich

All diese Kinder landeten zunächst in Lagern, Internaten oder auch paramilitärischen Ausbildungscamps, erhielten irgendwann neue Dokumente und wurden und werden russisch-patriotisch indoktriniert bis hin zu paramilitärischer Erziehung. Auch Nastia erhielt neue Dokumente. Demnach hatte sie offiziell keine Familie mehr. An die Indoktrinierungen will sie sich nicht erinnern. Sie habe nie aufgepasst, sagt sie. Sie habe geschlafen während des Unterrichts. Nur die ständige Belehrung, dass es die Ukraine nicht mehr gebe, dass Kiew gefallen sei, erwähnt sie. Und die russische Hymne, die immer und immer wieder wiederholt wurde.

Verschleppte Kinder zu finden, sie zurück zu holen, ist ein Knochenjob, den das ukrainische Rettungs-Netzwerk Save Ukraine übernommen hat. Es sammelt Informationen, hilft Angehörigen, die nötigen Dokumente bereitzustellen, organisiert den Abholprozess. Gerade hat die Organisation drei neue Kleintransporter von der Hamburger Stadtregierung erhalten.

Iryna hat ihren 13-jährigen Sohn Bohdan zurück. Er war aus einem Feriencamp nicht zurückgekehrt. Seine Ausreise erfolgte nach großen Mühen und langem Warten über die belarussische Grenze.
Iryna hat ihren 13-jährigen Sohn Bohdan zurück. Er war aus einem Feriencamp nicht zurückgekehrt. Seine Ausreise erfolgte nach großen Mühen und langem Warten über die belarussische Grenze. © Reuters | Valentyn Ogirenko

Doch wenn ein Kind bereits adoptiert wurde, ist eine Rettungsaktion so gut wie unmöglich. Nur einmal hat es ein Junge aus der Adoption in Russland wieder nach Hause geschafft. Er hatte sich heimlich ein Mobiltelefon besorgt und seine Eltern kontaktiert. Vor allem aber: Je länger es dauert, desto größer wird die Entfremdung und umso schwerer ist die Heimkehr. Nastia sagt: Ein Mädchen aus ihrer Gruppe habe in russischer Obhut bleiben wollen.

Die Mutter ist zurück in Cherson, Nastia will zunächst in Kiew bleiben

Die Rettungsaktionen gleichen einem juristischen Flashmob: Alle Dokumente werden beschafft, die Einreise der Angehörigen nach Russland und die Reise an den Ort selbst werden vorbereitet – und dann schlagen die Angehörigen an Ort und Stelle mit allen Papieren auf. In Nastias Fall war das der 19. Mai 2023. Da wurden einige Kinder in dem Lager – zusammen 24 Mädchen und 32 Jungen – plötzlich in ein Klassenzimmer geschickt. „Wir ahnten, dass etwas im Gange ist“, sagt Nastia. Sie habe sich unter dem Tisch versteckt und geweint vor Angst.

Dann aber seien plötzlich die Mütter der Kinder in die Klasse gekommen. Auch ihre. Nastia schluckt und schweigt. Als sie die Worte wiederfindet, spricht sie betont sachlich: „Sie haben uns unsere Dokumente zurück gegeben. Sie haben noch einmal versucht, uns davon zu überzeugen, in Russland zu blieben.“ Eine leuchtende Zukunft würden sie alle haben in Moskau, St. Petersburg oder Krasnodar. Und da habe dieses eine Mädchen seiner Mutter dann gesagt, dass sie nicht mit ihr zurück gehen werde. Nastia schweigt.

In Kiew kümmern sich Psychologen um die entführten Kinder

Auch ihre Reise nach Kiew beschreibt sie wortkarg. Sie sei mit ihrer Mutter und den anderen viele Stunden Bus gefahren und haben viel geschlafen. Irgendwann hätten sie dann lange gehen müssen in der Nacht. Wohl über die Grenze. Dann seien sie in einen anderen Bus gestiegen.

Seit Mai ist die 15-Jährige jetzt in Kiew – hier in der Unterkunft, die von Save Ukraine betreut wird, zusammen mit anderen Jugendlichen, deren Geschichten ähnlich sind. Ihre Mutter ist längst wieder in Cherson, kümmert sich um die Tante. Hier gibt es Sozialarbeiter, Kunsttherapie und Psychologen, die sich um die Ängste und seelischen Narben der Kinder kümmern. Nastia will noch eine Weile bleiben.