Berlin. Einst war Alexandra Schwarz Meteorologin – jetzt unterrichtet sie Physik und Mathe am Gymnasium. Leicht fiel ihr der Wechsel nicht.

  • An nahezu allen Schulen in Deutschland fehlen Lehrer
  • Ein Teil der Lösung können Quereinsteiger aus anderen Berufen sein
  • Eine ehemalige Meteorologin berichtet von ihrem Start als Lehrerin

Als Alexandra Schwarz das erste Mal vor einer Schulklasse stand, hatte sie gerade einmal einen einwöchigen Crash-Kurs hinter sich. Pädagogik, Didaktik, fachliche Inhalte – alles im Schnelldurchlauf, gequetscht in ein paar Tage. „Überleben im Schulalltag“ nennt die 41-Jährige den Kurs rückblickend. Danach ging es für sie direkt los, ohne Pause, ohne weitere Vorbereitung: unterrichten vor zwei Dutzend Schülern. Mathe und Physik an einem Gymnasium.

Schwarz ist Quereinsteigerin im Lehramt. Eigentlich hat sie Meteorologie studiert und mit Diplom abgeschlossen. Doch irgendwann wollte die Mutter von drei Kindern in ihrem Berufsleben noch einmal etwas anderes machen – etwas Sinnvolleres, wie sie sagt: „Ich habe mir gedacht: Ich kann mein Wissen einbringen, habe ein gutes Einkommen und gute Arbeitsbedingungen – warum nicht?“ Also bewarb sich Alexandra Schwarz 2019 als Quereinsteigerin an einer Berliner Schule. Weil sie zum zweiten Schulhalbjahr startete, ging es für sie nach dem Einführungskurs direkt im Schulbetrieb los.

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„Es gab zwar zwischendurch immer mal wieder kürzere Kurse, aber das Wichtigste war der Unterricht“, erinnert sie sich. Am Anfang habe sie noch einen „Paten“ an die Seite gestellt bekommen – ein Lehrer im Ruhestand, der sie ein paar Wochen lang immer mal wieder unterstützte. „Diese Paten sind aber mehr oder weniger dafür da gewesen, dass wir nicht gleich wieder kündigen“, sagt sie. Davon abgesehen sei es anfangs vor allem darum gegangen, zu überleben.

Quer- oder Seiteneinsteiger machen ein Zehntel der Neueinstellungen aus

„Am Anfang fühlte ich vor allem eines: Überforderung“, erzählt die 41-Jährige, die ursprünglich aus Bayern kommt. „Man wird komplett ins kalte Wasser geschmissen, steht vor einer Klasse und weiß, dass die Kinder alles sehen und alles mitbekommen, was man macht.“

Gerade in den MINT-Fächern, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, fehlen in Deutschland Lehrkräfte. Der Mangel ist so groß, dass fast alle Bundesländer auf Quer- und Seiteneinsteigende wie Alexandra Schwarz setzen.

Wenn alles nach Plan läuft, macht Alexandra Schwarz in diesem Jahr ihr zweites Staatsexamen als Lehrkraft. Eigentlich ist die Meteorologin.
Wenn alles nach Plan läuft, macht Alexandra Schwarz in diesem Jahr ihr zweites Staatsexamen als Lehrkraft. Eigentlich ist die Meteorologin. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Im vergangenen Jahr lag der Anteil an Neueinstellungen durch Quer- und Seiteneinstieg laut Daten der Kultusministerkonferenz bei 9,4 Prozent. Das heißt: Fast jede zehnte neueingestellte Lehrkraft hatte keine klassische Lehramtsausbildung. Ein Problem dabei: Nicht in allen Bundesländern wird der Quer- und Seiteneinstieg gleichermaßen umgesetzt. Die Unterschiede beginnen schon bei der Benennung: Einige sprechen nur von Seiten- andere nur von Quereinsteigenden, manchmal werden beide Begriffe genutzt.

Auch die notwendigen Voraussetzungen und Qualifizierungsmaßnahmen unterscheiden sich. So ist der Einstieg in einer Mehrzahl der Bundesländer ausschließlich über ein Referendariat möglich – entweder regulär oder in einigen Fällen auch berufsbegleitend. Wer es mit einem zweiten Staatsexamen abschließt, ist den durch ein Lehramtsstudium ausgebildeten Lehrkräften gleichgestellt. Einige Länder ermöglichen den Einstieg aber auch ohne Referendariat – etwa Hessen oder Schleswig-Holstein.

Experten kritisieren die unterschiedlichen Qualifizierungsmodelle

Berlin qualifiziert Quereinsteigende in der Regel berufsbegleitend. Für Alexandra Schwarz startete die Ausbildung erst, nachdem sie bereits ein halbes Jahr unterrichtet hatte. Um für das Referendariat zugelassen zu werden, musste sie sich jedoch zunächst in einem berufsbegleitenden Studium in Mathe nachqualifizieren. Ihr vorheriger Abschluss wurde ihr zwar für ihr erstes Fach, Physik, anerkannt – für Mathematik war er jedoch nicht ausreichend. Also verbrachte sie zwei Jahre lang zwei Tage die Woche in Vorlesungen und Seminaren, an den anderen drei unterrichtet sie.

Fast jede zehnte neu eingestellte Lehrkraft war 2022 ein Quer- oder Seiteneinsteiger.
Fast jede zehnte neu eingestellte Lehrkraft war 2022 ein Quer- oder Seiteneinsteiger. © Lars Heidrich

„Das waren schon harte zwei Jahre“, erinnert sie sich – vor allem, als im Zuge der Pandemie ihre eigenen Kinder nicht mehr in die Schule gehen konnten. Doch Aufgeben war für Schwarz keine Option. Mittlerweile ist sie im zweiten Jahr ihres Referendariats. Wenn alles nach Plan läuft, hat sie in etwa einem halben Jahr das zweite Staatsexamen in der Tasche und kann dann als reguläre Lehrkraft arbeiten.

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Der Quer- und Seiteneinstieg ist mittlerweile von einer Notlösung zum Regelfall geworden. Bis 2025 könnten laut Kultusministerkonferenz knapp 25.000 Lehrkräfte in Deutschland fehlen. Andere Untersuchungen kommen auf deutlich höhere Zahlen. Angesichts dieser Perspektiven kritisieren viele Expertinnen und Experten das uneinheitliche Qualifikationssystem in Deutschland. „Es ist in Anbetracht des unglaublichen Lehrkräftemangels klar, dass es aktuell nicht ohne Quer- und Seiteneinsteigende gehen wird“, sagt die Präsidentin der Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung (GEBF), Cornelia Gräsel.

Bildungsforscherin: „Lehrkraft zu sein, ist ein akademischer Beruf“

Das Problem sei laut Gräsel jedoch der „Wildwuchs an Qualifikationswegen“, den es in Deutschland gibt. Eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der GEBF, der auch Gräsel angehörte, hat deswegen im Juli eine Stellungnahme zum Quer- und Seiteneinstieg veröffentlicht. Darin fordern sie unter anderem einen Mindeststandard für die Qualifikation von Lehrpersonen ohne reguläres Lehramtsstudium – in Form eines berufsbegleitenden Masterstudiengangs mit anschließendem verkürztem Referendariat.

Susanne Lin-Klitzing, Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, sieht Modelle, in denen Quereinsteiger von Beginn an unterrichten, kritisch.
Susanne Lin-Klitzing, Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, sieht Modelle, in denen Quereinsteiger von Beginn an unterrichten, kritisch. © imago images/Mauersberger | imago stock

Wichtig sei dabei vor allem die Anbindung an die Hochschulen, sagt Gräsel: „Lehrkraft zu sein, ist ein akademischer Beruf, der wissenschaftliche Fach-Qualifikationen, aber auch fachdidaktische und bildungswissenschaftliche Kenntnisse erfordert.“ Durch das aktuelle System drohten Bildungsstandards abgesenkt und die Wertschätzung für den Lehrberuf verringert zu werden.

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Philologenverband warnt vor Überforderung der Seiteneinsteiger

Ähnliche Forderungen gibt es auch von den Verbänden. „Wir müssen jetzt so planen, dass die Quer- und Seiteneinsteigenden ein Niveau erreichen, das dem derjenigen entspricht, die regulär ausgebildet werden“, sagt die Vorsitzende des Philologenverbands, Susanne Lin-Klitzing.

Kritisch sieht sie Modelle, in denen die Quer- und Seiteneinsteigenden bereits von Anfang an unterrichten. „Wenn Quer- und Seiteneinsteigende aus dem Stand heraus drei Viertel der Stunden eines normalen Lehrauftrags unterrichten müssen, ist eine systematische Überforderung vorprogrammiert.“

Lin-Klitzing fordert „ein System, das an hohen akademischen Standards festgemacht ist und gleichzeitig genügend praktische Unterstützung im Referendariat bietet, damit diese Personen auf Dauer gut unterrichten, gesund bleiben und diesen an sich wunderbaren Beruf ausüben können“. Dafür seien bundeseinheitliche Mindeststandards dringend notwendig.

Alexandra Schwarz ist heute glücklich, dass sie dabeigeblieben ist. Und: Sie würde die Entscheidung jederzeit wieder treffen, sagt sie. „Trotz aller widriger Bedingungen, trotz der Arbeitsbelastung und Bürokratie: Es macht mir jeden Tag mehr Spaß und ich arbeite einfach super gerne mit Kindern.“ Auch das Feedback der Schülerinnen und Schüler sowie von den Eltern sei toll, erzählt sie. „Den Kindern ist es sowieso total egal, welchen Hintergrund ich habe – solange ich fair und nett zu ihnen bin.“

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