Berlin. Wildtiere in der Stadt, Zecken auf dem Vormarsch und gefährliche Grippeviren: Was Ex-RKI-Chef Wieler zum Umgang mit neuen Erregern rät.

  • Vielen ist er aus der Corona-Pandemie bekannt: Lothar Wieler, ehemaliger Chef des Robert Koch-Insituts (RKI)
  • Im Interview erklärt er, welche Viren eine neue Pandemie auslösen könnten
  • Was Wieler zum Umgang mit den neuen Erregern rät

In der Pandemie war Lothar Wieler als RKI-Chef einer der wichtigsten Corona-Erklärer. Heute arbeitet der 62-Jährige am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam, sein Schwerpunkt ist die Digitalisierung des öffentlichen Gesundheitswesens. Im Interview sagt der Veterinärmediziner, welche Gefahren durch Wildtiere in Städten und klimabedingte Infektionserreger ausgehen – und welches Virus ihm heute die größten Sorgen bereitet.

Als RKI-Chef sind Sie in der Pandemie ins Visier militanter Corona-Leugner geraten, bekamen sogar Morddrohungen. Hat das aufgehört?

Lothar Wieler: Das hat keine Bedeutung für mein Leben. Wenn mich Menschen erkennen und ansprechen, bedanken sich die meisten bei mir und beim Robert Koch-Institut (RKI) für unsere Arbeit in der Pandemie.

Denken Sie noch an Corona – zum Beispiel, wenn sie in ein volles Restaurant gehen?

Wieler: Mein Alltag ist zum Glück wieder komplett normal. Da das Virus als Krankheitserreger weiter vorhanden ist, sollten wir uns dieses Risikos bewusst sein. Der naive Gedanke, dass eine solche Pandemie einfach mit ein bisschen mehr Aufwand vom Gesundheitssystem alleine aufgefangen wird, ist vorbei. Deswegen sollten wir nicht vergessen, was wir im Umgang mit dem SARS-CoV2 gelernt haben. Ich erwarte zum Beispiel, dass die Verbreitung im Winter wieder zunimmt, weshalb die Stiko für bestimmte Bevölkerungsgruppen eine jährliche Auffrischimpfung empfiehlt. Allerdings ist das Coronavirus inzwischen nur ein Erreger unter vielen, die wir im Alltag beachten müssen.

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Sie haben immer fürs Impfen geworben. Heute wissen wir: Es gibt Long-Covid-Fälle trotz Dreifach-Impfung und Zehntausende Fälle, bei denen Impfschäden vermutet werden. Waren die Impfungen sicher genug?

Wieler: Die Impfungen haben weltweit Millionen von Menschenleben gerettet, ihr Nutzen überwiegt bei weitem. Unabhängig davon müssen mögliche Impfnebenwirkungen beobachtet werden, weshalb zum Beispiel das RKI immer ein Monitoring von Impfnebenwirkungen angemahnt beziehungsweise entsprechende Studien durchgeführt und publiziert hat. Die Hälfte aller weltweit gemeldeten Verdachtsfälle von Impfschäden kommen aus Deutschland, hier scheint eine sehr hohe Sensibilität für das Thema zu bestehen. Es wird Einzelfälle geben, wo die Impfung nachteilige Folgen hatte, aber das ist leider bei fast allen Medikamenten so. Deshalb muss die Forschung herausfinden, welche Mechanismen dem zugrunde liegen. Dann kann man in Zukunft zum Beispiel besser sagen, für wen eine Impfung empfohlen wird oder eben nicht.

Haben wir jetzt erstmal Ruhe vor neuen Pandemien?

Wieler: Die größte Sorge bereitet mir die Grippe, also Influenzaviren. Influenzaviren verändern ihr Erbgut sehr schnell. Das Grippevirus hat großes Potenzial, eine neue Pandemie auszulösen. Es wäre nicht das erste Mal, die Spanische Grippe ist das bekannteste Beispiel. Derzeit beobachten wir mit der Vogelgrippe die größte je gemessene Panzootie unter Nutzgeflügel und Wildvögeln. Das H5N1-Virus wird in Einzelfällen immer wieder auch bei Säugetieren nachgewiesen, etwa bei Katzen, denken sie nur an die kürzlich nachgewiesenen Fälle bei 47 Katzen in Polen. Durch diesen Sprung auf ein Säugetier wächst grundsätzlich die Chance einer gefährlichen Veränderung des Virus. Daher sind die Fälle bei Säugetieren für uns ein Warnsignal. Wir wissen aus den vergangenen Jahren: das H5N1 springt bislang sehr selten auf Menschen über, aber wenn dieses Vogelgrippevirus Menschen infiziert, dann ist es sehr gefährlich.

„Derzeit beobachten wir mit der Vogelgrippe die größte je gemessene Panzootie unter Nutzgeflügel und Wildvögeln“, warnt Lothar Wieler.
„Derzeit beobachten wir mit der Vogelgrippe die größte je gemessene Panzootie unter Nutzgeflügel und Wildvögeln“, warnt Lothar Wieler. © dpa | Jan Woitas

Das heißt?

Wieler: Viele der Infizierten sind gestorben, laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden in den letzten 20 Jahren weltweit rund 2.600 Erkrankungen beim Menschen und 1.100 Todesfälle angezeigt. Da müssen die Nationalen Public Health-Institute wachsam sein, glücklicherweise verfügt unser Land mit dem RKI und dem Friedrich-Loeffler-Institut (FLI) über wissenschaftlich exzellente Institutionen, die das Risiko sachlich und unaufgeregt einschätzen.

Welche Gesundheitsgefahren bringt der Klimawandel?

Wieler: Der Klimawandel erhöht das Risiko für Infektionskrankheiten. Durch die Erderwärmung etwa steigen vielerorts die Wassertemperaturen. Das begünstigt z.B. die Ausbreitung bestimmter Erreger wie Vibrionen, z.B. auch der Cholera. Außerdem: Durch den Klimawandel vergrößert sich der Lebensraum für Zecken sowie bestimmte Mücken und Stechfliegen auch bei uns in Deutschland – und mit ihnen die Infektionskrankheiten, die von diesen Vektoren übertragen werden. Ein Beispiel ist das West-Nil-Virus, das bei Menschen eine schwere Gehirnhautentzündung auslösen kann. Bisher sind die Fallzahlen in Deutschland gering. Wir brauchen aber dringend eine stärkere Aufmerksamkeit für diese neuen Krankheiten, die der Klimawandel mit sich bringt. Gerade auch bei Ärzten und Ärztinnen.

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Inwiefern?

Wieler: Wenn ein Patient mit entsprechenden Symptomen in die Praxis kommt, müssen die Ärztinnen und Ärzte die Hinweise richtig deuten können. Dazu braucht es erstmal ein Bewusstsein für diese neuen Infektionserreger. Angesichts des Klimawandels ist es wichtig, dass gerade Hausärzte gezielt weitergebildet werden und im Praxisalltag sensibel sind für diese Entwicklung. Das gilt auch für die Krankheiten, die von Zecken übertragen werden - Borreliose und die Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) etwa. Die Verbreitung bestimmter Zecken nimmt zu.

In vielen Regionen kommen immer mehr Wildtiere in die Stadt – vor allem Füchse, aber auch Waschbären. Ist das eine Gesundheitsgefahr?

Wieler: Die Verbreitung der Füchse in Städten ist grundsätzlich keine gute Entwicklung. Es gibt die Lebenswelt der Wildtiere und die Welt der Menschen. Um Infektionen zu vermeiden, sollten wir diese Welten so wenig wie möglich vermischen. Der Fuchsbandwurm kann eine lebensbedrohliche Erkrankung auslösen. Wilde Tiere wie Füchse dürfen deswegen auf keinen Fall angelockt werden. Wer sie füttert oder zulässt, dass sie Futter in der Nähe von Siedlungen finden, erhöht ohne Not die Chance der Mensch-Wildtier-Interaktion. Das sollte unbedingt unterbleiben. Füchse sollten wieder dahin zurück, wo sie hingehören.

Füchse in der Großstadt? „Keine gute Entwicklung“, mahnt Veterinärmediziner Lothar Wieler.
Füchse in der Großstadt? „Keine gute Entwicklung“, mahnt Veterinärmediziner Lothar Wieler. © epd | Rolf Zoellner

Nach dem Kampf gegen das Corona-Virus kämpfen sie jetzt gegen eine andere globale Gefahr: Was heißt es für uns, wenn Antibiotika nicht mehr wirken?

Wieler: Das ist ein sehr großes Risiko für die weltweite Gesundheit. Im Jahr 2019 sind rund 1,2 Millionen Menschen an Infektionen gestorben, weil die jeweiligen bakteriellen Erreger gegen Antibiotika resistent waren. Das ist ein Problem, wenn wir eine Infektionskrankheit nicht mehr gut behandeln können und der Verlauf daher länger oder schwerer ist. Die andere große Gefahr ist, dass wir schlimmstenfalls bestimmte medizinische Eingriffe nicht mehr machen können. Transplantationen zum Beispiel werden unter einem Antibiotika-Schutz durchgeführt, um eine Infektion zu vermeiden. Wirkt dieser Schutz nicht mehr, stehen wichtige Errungenschaften der modernen Medizin infrage. Um die Entwicklung zu stoppen, müssen wir u.a. dahin kommen, dass Antibiotika nur noch verschrieben werden, wenn es unbedingt notwendig ist. Grundsätzlich ist natürlich der Schutz vor Infektionen, die Prävention, die wirksamste Maßnahme.

Dabei könnte die digitale Patientenakte helfen. Gesundheitsminister Lauterbach will, dass bis 2025 rund 80 Prozent der Deutschen dabei sind. Klappt das?

Wieler: Ich hoffe es sehr. Ich wünsche dem Gesundheitsminister sehr viel Glück bei dem Vorhaben. Im Alltag wäre es eine große Hilfe, wenn der Arzt zum Beispiel auf einen Blick sehen kann, welche Medikamente ein Patient bei anderen Ärzten bereits bekommen hat.

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Wer nicht will, dass seine Gesundheitsdaten für die Forschung genutzt werden, muss künftig aktiv widersprechen. Schafft man so Vertrauen?

Wieler: In der Diskussion erleben wir zwei Pole, maximale Datensicherheit gegen maximalen Gesundheitsschutz. Beide Seiten müssen Abstriche machen. Am wichtigsten ist aber, dass die Bürgerinnen und Bürger gut informiert werden über den Nutzen dieser Datenspende: Für die Forschung ist es wichtig, die Daten nutzen zu können, um mehr über Krankheiten zu erfahren, für die Ärzte und Ärztinnen ist es wichtig, um einzelne Patienten besser behandeln zu können.

Sie beschäftigen sich auch mit dem Nutzen von Künstlicher Intelligenz im Gesundheitswesen. Kann KI Leben retten?

Wieler: Auf jeden Fall. Ein Beispiel: In der Krebstherapie haben wir sehr komplexe Krankheitsbilder und sehr spezifische Therapien. Ein Arzt kann das in Einzelfällen allein trotz großer Erfahrung kaum überblicken. KI kann aber etwa berechnen, welche Medikamente in welchem Stadium eingesetzt werden müssen, wie erfolgreich eine Tumor-Therapie gewesen ist oder welches Ergebnis eine Behandlung haben kann.

Lothar Wieler, Sprecher des Digital Health Clusters und Leiter des Fachgebiets Digital Global Public Health am Hasso-Plattner-Institut (HPI).
Lothar Wieler, Sprecher des Digital Health Clusters und Leiter des Fachgebiets Digital Global Public Health am Hasso-Plattner-Institut (HPI). © Michael Bahlo/dpa

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Die KI entscheidet künftig, wie eine Krebsbehandlung abläuft?

Wieler: Nein. Aber der Arzt hat eine viel bessere Entscheidungsgrundlage. Deswegen ist es wichtig, Mediziner an der Entwicklung der medizinischen Algorithmen zu beteiligen.

Droht mit dem Einsatz von KI eine neue Zwei-Klassen-Medizin? Also eine Spaltung zwischen Ländern, die entsprechende Technologien bezahlen können, und den Ländern, die solche Möglichkeiten nicht haben?

Wieler: Die Gefahr ist sehr groß. Denn die Schere ist bereits da, sie muss kleiner, sie darf nicht größer werden. Deswegen gibt es unter Beteiligung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Initiative, dass auch Länder mit geringeren Möglichkeiten die in reicheren Regionen entwickelten Algorithmen nutzen und mit den Daten ihrer eigenen Bevölkerung füttern können.

Sollte man Chatbots mit persönlichen Krankheitsdaten füttern und sich Diagnosen stellen lassen, anstatt zum Arzt zu gehen?

Wieler: Wenn der Chatbot gut ist, ist das durchaus eine gute Idee. Für Laien ist das aber nur schwer zu erkennen. Nötig ist deswegen eine Regulierung und eine gute Überprüfung der Angebote. Wir brauchen ein staatliches Siegel für medizinische Chatbots. Patienten und Patientinnen müssen auf den ersten Blick erkennen können, ob sie ein seriöses Angebot nutzen.

Sind wir zu vorsichtig bei der Nutzung von KI?

Wieler: In Deutschland regeln wir oft zu viel und sehr kleinteilig. Für die Anwendung von KI müssen wir den richtigen Weg finden, ohne die Gefahren zu vernachlässigen.