Kiew. Im Krieg gegen Putin wollen auch kriminelle Ukrainer zur Verteidigung ihres Landes beitragen. Sie wählen eine skrupellose Methode.
Im Krieg zwischen Russland und der Ukraine formt sich eine neue, ungewöhnliche Front: Schon seit Jahren konzentrieren sich ukrainische Telefonbetrüger auf das östliche Nachbarland – in der Ukraine soll es Hunderte Call-Center geben, deren Mitarbeiter tagtäglich nichts anderes tun, als Menschen in Russland mit russischen SIM-Karten anzurufen, um mit unterschiedlichsten Betrugsmethoden an ihr Geld zu kommen.
Für russische Strafverfolgungsbehörden waren die Center fast unerreichbar. Und in der Ukraine wurde oft ein Auge zugedrückt – allein schon wegen der Krim-Annexion, die für Russland seit 2014 ohne Folgen geblieben war. Mit der russischen Invasion im Februar 2022 änderte sich jedoch etwas Entscheidendes: Bereicherten sich die Betrüger früher hauptsächlich selbst, sehen sie ihr Tun heute oft als eine Art „heilige Mission“ – und zwar eine, die noch gefahrloser verfolgt werden kann als vor Kriegsbeginn.
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Denn seitdem herrscht zwischen der Ukraine und Russland endgültig diplomatische Eiszeit. Russischen Behörden können auch formell keine Betrugsfälle mehr melden, was vorher noch ging – und wo kein Kläger, da kein Richter. Für den ukrainischen Staat hat das mehrere Vorteile: Zum einen schwächt das Vorgehen die russische Wirtschaft. Zum anderen sind die Betreiber der Center, meist Unternehmer mit einem fragwürdigen Hintergrund, zwar nach wie vor am eigenen Profit interessiert. Ein bedeutender Teil der Einnahmen wird trotzdem an die ukrainische Armee gespendet – oft 20 bis 25 Prozent.
Mitarbeiter spenden 10 bis 15 Prozent ihres Monatsgehalts
Ein Mitarbeiter in einem dieser Center bestätigt das auf Nachfrage dieser Redaktion. „Wir spenden darüber hinaus alle auch so 10 bis 15 Prozent unseres Gehaltes monatlich“, sagt er. „Das gehört zum guten Ton und ist auch so abgesprochen.“ Was nach einer etwas anderen Robin-Hood-Geschichte klingt, ist kein ganz neues Phänomen. Der belarussisch-polnische Sender Belsat berichtete über die Betrugsmaschen schon im März – und interviewte einen Mitarbeiter in einem Center in der ostukrainischen Stadt Dnipro.
„Gerade zu Kriegsbeginn haben unsere Manager uns damit motiviert, dass wir eine Art zweite Front sind“, erklärte Pawlo dem Sender. „So nach dem Motto: Unsere Jungs töten den Feind im Krieg – und wir nehmen den Russen ihr Geld, um Russland wirtschaftlich zu schwächen.“ In Dnipro gibt es besonders viele Einrichtungen solcher Art. „Für viele unserer Mitarbeiter war und bleibt dies eine große Motivation. Ich fühle mich selbst nicht als Teil einer Front, aber viele Leute wurden tatsächlich dadurch mitgenommen.“
Es gibt unzählige Wege, wie genau die Call-Center an das Geld der Russen kommen. Die meistverbreitetste Masche ist der übliche Bankbetrug. Die ukrainischen Telefonisten geben sich als Mitarbeiter einer der größten russischen Banken aus, um dem Anrufempfänger über verdächtige Aktivitäten seiner Kreditkarte zu berichten. Im Laufe des Telefonats kommen sie dann auf wichtige Angaben wie das Ablaufdatum und den CVV-Code zu sprechen. Mit der Kartennummer lassen sich so Zahlungen im Internet veranlassen.
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Bankbetrug an Russen: Das sind die „erfolgreichsten“ Methoden
Manchmal stellen sich die Betrüger auch als Polizisten vor, die den Anruf an einen nicht existierenden Mitarbeiter der russischen Zentralbank weiterleiten. Dieser bittet den „Kunden“ anschließend darum, sein Geld vorerst auf ein angeblich sicheres Konto weiterzuleiten – am Ende verliert das Opfer das gesamte Geld. In die Ukraine gelangt die Beute meist via Zwischenkonten in Ländern wie Armenien oder Kasachstan, weil direkte Banküberweisungen zwischen Russland und der Ukraine nicht mehr funktionieren.
„Das Ganze ist einfach eine Sache der Geduld. Fünf Menschen erkennen den Betrug, der sechste oder siebte lässt sich betrügen“, berichtet ein Mitarbeiter aus Kiew, der nach eigener Aussage überraschende Gespräche mit den Russen führte. „Es gab ein paar Leute, die gleich den Betrug bemerkt haben – aber ausdrücklich sagten, dass sie der Ukraine alles Gute wünschen. Das sorgt bei mir schon für ein Lächeln.“
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Eine fortgeschrittene Variante des Betrugs sind Fake-Angebote, wonach die Russen in Aktien der großen russischen Unternehmen Gazprom oder Sberbank investieren sollen. „Mir vertraute ein russischer LKW-Fahrer mal so sehr, dass er zwei seiner LKWs verkauft und das Geld in diese ‘Aktien’ investiert hat“, erzählte Pawlo. Es ging um umgerechnet 80.000 Euro – und weil die Call-Center nicht selten Hunderte Mitarbeiter zählen, kommen hohe Summen zusammen, die dann teilweise an die ukrainische Armee gehen.
Auch ukrainische Binnenflüchtlinge sind unter den Betrugsopfern
Doch das Betrugsgeschäft hat auch eine Kehrseite: In der wirtschaftlich durch den Krieg geschwächten Ukraine ist die Arbeit in solchen Call-Centern derzeit eine der wenigen Möglichkeiten, relativ leicht an ein gutes Gehalt von umgerechnet etwa 2000 Euro im Monat zu kommen. Und so entstehen nicht nur immer mehr solcher Center, sondern auch die Fälle, in denen neben den Russen auch Ukrainer betrogen werden. Im Zeitraum zwischen Januar und Mai 2023 vervierfachte sich die Zahl der Straftaten dieser Art.
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Inzwischen beschäftigt sich im ukrainischen Parlament, der Werchowna Rada, eine interne Untersuchungskommission explizit mit Fragen des Telefonbetrugs. Besonders bitter ist, dass der Betrug oft auf Binnenflüchtlinge abzielt, die staatliche Hilfsleistungen bekommen. Hoch sind diese Hilfen nicht. Doch weil sich unter den Empfängern viele ältere Menschen mit geringer Bank- und Internetkompetenz befinden, sind sie für einige Betrüger von besonderem von Interesse – und eine leichte Beute.
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