Berlin/Wiesbaden. Die Wirtschaftsweise Ulrike Malmendier fürchtet, dass die hohe Inflation den Aufschwung der AfD befeuern könnte – mit schlimmen Folgen.

Ulrike Malmendier ist auf Deutschlandbesuch. Seit vergangenen Sommer gehört die Ökonomin der Universität von Kalifornien den sogenannten Wirtschaftsweisen an. Das Beratungsgremium der Bundesregierung trifft sich gerade in Wiesbaden für sein Jahresgutachten. Im Interview mit unserer Redaktion sagt Malmendier, wozu die anhaltend hohe Inflation führen kann.

Die AfD liegt in Deutschland inzwischen über 20 Prozent, hat im Osten das erste Rathaus und das erste Landratsamt erobert. Machen Sie sich Sorgen um Demokratie und Wohlstand?

Ulrike Malmendier: In der Tat mache ich mir Sorgen. Unser Land braucht ganz dringend nicht nur Fachkräfte, sondern Arbeitskräfte auf allen Ebenen, damit der Wohlstand erhalten werden kann. Die Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland wird nicht in ausreichendem Umfang gelingen, wenn eine Abschottungspartei wie die AfD immer größeren Zuspruch findet – und Polarisierung in den Vordergrund rückt. Ich habe hautnah den Aufstieg des Trumpismus in den USA erlebt. Auch deswegen bedrückt mich die Entwicklung in Deutschland so sehr. Ich habe gesehen, wie schnell es passieren kann, dass man eine Gesellschaft mit einfachen Parolen und Sprüchen spaltet.

Sie leben und forschen in Kalifornien. Würden Sie afroamerikanischen Kollegen raten, an eine Universität in Ostdeutschland zu wechseln?

Malmendier: Ich kenne Kollegen mit dunkler Hautfarbe, die mir ganz klar sagen: Da hätte ich Angst, da müsste ich vorsichtig sein in gewissen Städten. Das ist eine Tragödie.

Übertreibt die deutsche Innenministerin Nancy Faeser, wenn sie sagt, die AfD werde „zum Chancen-Tod gerade für die Regionen, die wirtschaftlichen Aufschwung brauchen und dafür dringend auf qualifizierte Arbeitskräfte angewiesen sind“?

Malmendier: Das, wofür die AfD steht, schreckt ausländische Fachkräfte ab. Deutschland mit seiner komplizierten Sprache, seiner Bürokratie und seiner unzureichenden Kinderbetreuung hat es ohnehin schwer, Fachkräfte zum Kommen und zum Bleiben zu bewegen. Die Willkommenskultur lässt zu wünschen übrig. Und wenn jetzt noch nationalistische Kräfte auf dem Vormarsch sind, wird es sicherlich nicht einfacher – gerade in Regionen, wo wir gerne größere Unternehmen mit höheren Löhnen ansiedeln würden. Mir ist aber wichtig, dass wir nicht bei der Wählerschelte bleiben, sondern uns fragen: Was muss sich in der Lebenswirklichkeit der Menschen ändern, damit sie Zuwanderung bejahen.

Björn Höcke, AfD-Fraktionschef, sitzt im Plenarsaal zu Beginn der Sitzung des Thüringer Landtags.
Björn Höcke, AfD-Fraktionschef, sitzt im Plenarsaal zu Beginn der Sitzung des Thüringer Landtags. © dpa | Martin Schutt

Woran denken Sie?

Malmendier: Die Lebensstandards dürfen nicht zu weit weg sein von dem, was versprochen wird. Die wirtschaftliche Entwicklung ist also ein wichtiger Faktor. Und wir müssen den Leuten vor Augen führen, dass es ein Vorteil ist, wenn man ausländische Mitarbeiter hat. Da helfen persönliche Erlebnisse: Der ausländische Pfleger, der die Mutter im Krankenhaus versorgt. Oder der Firmenchef mit ausländischen Wurzeln, der eine segensreiche Entwicklung verantwortet. Das ist Özlem Türeci und Ugur Sahin mit Biontech in der Corona-Pandemie gelungen. Solche positiven Beispiele müssen wir noch stärker herausstellen.

Wie viele ausländische Fachkräfte braucht Deutschland? Ihre Kollegin Monika Schnitzer hat eine hitzige Debatte ausgelöst, als sie sich für 1,5 Millionen Zuwanderer pro Jahr aussprach.

Malmendier: Diese Zahl kommt aus unserem Jahresgutachten 2022/23. Dort haben wir gezeigt, dass Deutschland jährlich 400.000 zusätzliche Arbeitskräfte braucht. Da viele aber das Land wieder verlassen, benötigen wir brutto deutlich mehr Menschen, die kommen, nämlich 1,5 Millionen. Die hohe Rate an Menschen, die Deutschland wieder verlassen, ist durch sehr unterschiedliche Ursachen bedingt. Eine fehlende Kultur und Aufnahmebereitschaft hilft da sicher nicht. Und nicht zu vergessen: Der Wettbewerb um Arbeitskräfte in Europa ist groß.

Was raten Sie einem ausländischen Unternehmen, das sich in Ostdeutschland ansiedeln will?

Malmendier: Ich würde ihm raten, sich im regionalen Umfeld zu engagieren. Auch hilft vielleicht das Beispiel der USA. Im Silicon Valley waren Google und Facebook anfangs auch nicht besonders willkommen. Was haben sie gemacht? Sie haben in die Region investiert: Sie haben beispielsweise Häuser gebaut, um Wohnraum erschwinglich zu machen. Schulen sind mit digitalen Endgeräten ausgestattet worden. Ich würde Unternehmen auch in Ostdeutschland empfehlen, Geld in die Hand zu nehmen, damit es den Menschen in der Region besser geht. Das wird sich am Ende auch für das Unternehmen auszahlen.

Die Performance der Ampel-Regierung könnte die Menschen aus dem Konzept gebracht haben, vermutet Malmendier.
Die Performance der Ampel-Regierung könnte die Menschen aus dem Konzept gebracht haben, vermutet Malmendier. © AFP | JOHN MACDOUGALL

Es gibt viele Erklärungen für den Höhenflug der AfD. Welchen Beitrag leistet die Inflation?

Malmendier: Es ist historisch belegt, dass es in Zeiten von Inflation – wenn die Leute verunsichert sind und auch einfach nicht mehr über die Runden kommen – zu einer Wählerbewegung hin zu extremeren Parteien insbesondere im rechten Spektrum kommen kann. In der derzeitigen Situation sehe ich die Inflation noch nicht als dominanten Faktor. Zum einen hat die Aufwärtsbewegung der AfD schon früher begonnen. Zum anderen sind die schlimmsten Szenarien mit zweistelligen Inflationszahlen nicht eingetreten. Aber das Problem ist noch nicht vorbei. Über sechs Prozent Inflation sind weit entfernt von Geldwertstabilität. Wir müssen dranbleiben, um nicht doch noch Öl ins Feuer zu gießen und den Zulauf für die AfD zu befeuern.

Welche Preisentwicklung erwarten Sie?

Malmendier: Die aktuelle Entwicklung geht auch auf Sondereffekte zurück – vor einem Jahr gab es den Tankrabatt und das 9-Euro-Ticket. Sorgen macht mir aber trotzdem, dass die Inflation immer noch bei sechs Prozent liegt. Es gibt zwar Prognosen, dass wir schon Ende des Jahres wieder bei zwei Prozent sind. Aber da bin ich nicht so optimistisch. Die Europäische Zentralbank sollte die entschiedenen geldpolitischen Maßnahmen fortsetzen. Beim Leitzins haben die Notenbanken ihre Möglichkeiten noch nicht ausgereizt.

Welchen Anteil hat die Performance der Ampelregierung – Stichwort Heizungsgesetz – am Allzeithoch der AfD?

Malmendier: Das ist schwer zu sagen. Viele Menschen erleben Desorientierung in ihrer Lebenssituation, weil sich grundlegende Dinge verändern: Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel. Und wenn die Regierung dann mit neuen Regeln kommt, die in das Privatleben eingreifen, kann das Menschen aus dem Konzept bringen. Das gilt gerade für Ostdeutschland, wo viele Leute schon einen enormen Wandel weg vom Sozialismus hin zur Marktwirtschaft durchgemacht haben.

Apropos Fachkräfte ins Land holen: Können Sie sich vorstellen, Berkeley zu verlassen und stattdessen in Frankfurt oder Leipzig zu forschen?

Malmendier: Grundsätzlich ja. 2015/16 habe ich mit meiner Familie ein Sabbatjahr in Bonn gemacht und ernsthaft überlegt, ein Angebot hier anzunehmen. Im Augenblick ist das aber kein Thema. In meinem Fachbereich in Berkeley ist es gerade einfach zu spannend. (lacht)

ParteiAlternative für Deutschland (AfD)
Gründung6. Februar 2013
IdeologieRechtspopulismus, Nationalkonservatismus, EU-Skepsis
VorsitzendeTino Chrupalla und Alice Weidel (Stand: April 2023)
Fraktionsstärke83 Abgeordnete im Bundestag (Stand: April 2023)
Bekannte MitgliederJörg Meuthen (ehemals), Alexander Gauland, Björn Höcke