Israel. Immer weniger Schüler in Israel pauken Fächer wie Mathe oder Englisch. Stattdessen auf dem Lehrplan: Religion. Mit verheerenden Folgen.
Wo liegt Deutschland? Wie sagt man Pferd auf Englisch? Was ergibt Neun mal Fünf? Fragen, die die meisten Zehnjährigen in Israel beantworten können. Aber das wird nicht mehr lange so bleiben, fürchten Experten: Die Zahl der Kinder, die ultraorthodoxe Schulen besuchen, nimmt im Land stark zu. In diesen Schulen werden Kernfächer wie Mathematik, Englisch, Naturwissenschaften oder Geografie oft gar nicht oder nur minimal unterrichtet.
Zumindest, wenn die Schüler männlich sind: Frauen, so ist die Praxis in ultraorthodoxen Familien, sind nicht nur dazu da, viele Kinder zu gebären und zu betreuen, sondern darüber hinaus auch Geld zu verdienen, und dafür brauchen sie Bildung. Der Mann hingegen hat die Pflicht, sein Leben dem Bibelstudium zu widmen. Und kann damit, so mahnen die Rabbiner, gar nicht früh genug beginnen.
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Schon in den Grundschulen kommt die Mehrheit der ultraorthodoxen Jungen nicht in Kontakt mit Mathematik oder Englisch. Diese Fächer zu lernen, sei „Unsinn“, sagte Oberrabbiner Yitzhak Yosef vor zwei Jahren vor einer versammelten Gruppe von Schülern. „Nehmen wir mich selbst: Habe ich etwa die Kernfächer gelernt? Habe ich einen Schulabschluss? Bis heute habe ich kein Abschlusszeugnis, und habe ich etwas versäumt? Das ist alles Unsinn – das Wichtigste ist unsere Heilige Schrift.“
Kein Mathe, kein Englisch: Kritik kommt auch von streng Gläubigen
Die Aussagen des Rabbiners werden auch von vielen Ultraorthodoxen kritisch gesehen. Zahlreiche strengfromme Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder auch in Englisch und Mathematik geschult werden, damit sie später einmal einen Job finden. Immer wieder gibt es Bestrebungen von Eltern, private religiöse Schulen ins öffentliche System einzugliedern. Sie scheitern dabei aber an mächtigen ultraorthodoxen Parteien.
Die Macht im ultraorthodoxen Schulsystem ist bei ihnen konzentriert, viel Geld und viele Lehrerjobs hängen daran. Diese Macht lassen sich die Parteien ungern nehmen, schon gar nicht vom Staat. Die Frage, wer was lernt und was nicht, ist zur hitzigen nationalen Debatte geworden. Zwar machen die Ultraorthodoxen nur 13 Prozent der israelischen Bevölkerung aus – es gibt also weniger strengreligiöse Israelis als israelischer Araber, die rund 20 Prozent stellen. Alle wissen aber, dass das nicht mehr lange so bleiben wird.
Israel: Jede ultraorthodoxe Frau hat im Schnitt sieben Kinder
Keine Bevölkerungsgruppe wächst so schnell an wie die Ultraorthodoxen. Jede Frau bringt im Schnitt sieben Kinder zur Welt. In vierzig Jahren werden die Strengfrommen laut Prognosen bereits mehr als die Hälfte der israelischen Bevölkerung stellen. Eine neue Generation an Geringqualifizierten wächst heran. Mit der neuen ultrarechten Regierung unter Benjamin Netanjahu hat sich das Problem noch verschärft.
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Unter den vergangenen Regierungen gab es wenigstens noch ein sanftes Druckmittel, um die Schulen dazu zu bewegen, den Kindern auch Mathematik oder Englisch beizubringen. Schulen, die diese Kernfächer nicht anboten, bekamen deutlich weniger Geld. Die neue Regierung hat diese Auflagen gestrichen und den ultraorthodoxen Schulen eine kräftige Geldspritze zugesagt. Schließlich hatten die Orthodoxen damit gedroht, die Regierung sonst platzen zu lassen.
Während Privatschulen in Deutschland den Grundsätzen des Schulgesetzes entsprechen müssen, sich aber aus eigener Kraft und aus Elternbeiträgen finanzieren, ist es in Israel genau umgekehrt: Privatschulen dürfen im Grunde machen, was sie wollen – erhalten dafür aber viel Geld vom Staat. Anders gesagt: Der Staat bezahlt, und die religiösen Schulbetreiber bestimmen, wofür.
Israel droht eine Zwei-Klassen-Gesellschaft
Zwar gibt es auch Schulen, die mehr Geld erhalten und sich dafür verpflichten, mehr Kernfächer zu unterrichten. „Das wird aber nur sehr nachlässig kontrolliert“, sagt Michael Tabibian Mizrachi, früher leitende Beamtin im Bildungsministerium und heute Expertin für Bildungsfragen. Die Leidtragenden dieses Systems sind die Kinder. Nur 15 Prozent der ultraorthodoxen Jungen machen Abitur. Fromme Männer, die ihre Familien aus einem Leben in Armut befreien und einen Job annehmen möchten, müssen feststellen, dass ihnen nur Hilfsjobs offenstehen – für alles andere fehlt es an Qualifikation.
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Selbst dort, wo die religiösen Kinder Englisch und Mathematik lernen dürfen, haben sie es häufig mit Lehrern zu tun, die selbst noch Lernbedarf hätten: Nur 47 Prozent der Englischlehrer an ultraorthodoxen Schulen haben Englisch studiert, wie aus Daten des Bildungsministeriums hervorgeht. An den öffentlichen Schulen haben die Lehrer in der Regel einen Uni- oder College-Abschluss, an den religiösen Schulen gilt das nur für eine kleine Minderheit.
Trotzdem hat die neue Regierung beschlossen, künftig allen Lehrern gleich viel zu bezahlen – unabhängig von ihrer Qualifikation. Das wird schwere Folgen haben für alle künftigen Schüler – also auch für jene, die in öffentliche Schulen gehen, glaubt Bildungsexpertin Tabibian Mizrachi: „Öffentliche Schulen müssen viel mehr Auflagen erfüllen und dürfen weder Spenden noch Schulgelder annehmen, trotzdem kriegen sie gleich viel Geld vom Staat wie Private.“ Das sei nichts anderes als eine Einladung an Schulen mit Öffentlichkeitsrecht, sich in private Einrichtungen umzuwandeln.
Am Ende droht ein Zwei-Klassen-System: Wer es sich leisten kann, schickt das Kind in die private Schule, die finanziell besser ausgestattet ist. Und wem das Geld für Schulbeiträge fehlt, dem bleibe nur noch die öffentliche Schule, sagt Mizrachi. „Die armen Familien werden die ersten sein, die das zu spüren bekommen.“
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