Berlin. Die Gegenoffensive stagniert, die Nato zögert mit Beitrittszusagen – und Putin sitzt weiter im Sattel. Gerät die Ukraine jetzt in Not?

Er gehört zu den bekanntesten Militärexperten in Deutschland: Carlo Masala. Der 55-Jährige lehrt Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München. Er beantwortet unserer Redaktion jede Woche die wichtigsten Fragen rund um den Ukraine-Krieg.

Der Nato-Gipfel in Vilnius hat der Ukraine nicht versprochen, nach dem Krieg direkt ins Bündnis aufgenommen zu werden. Ist die Allianz an einem Eklat vorbeigeschrammt?

Carlo Masala: Eine Einladung der Ukraine für den Beitritt zur Nato war im Bündnis nicht durchsetzbar. Die Widerstände der Amerikaner, Deutschen, Niederländer und von anderen waren zu groß. Die Schlusserklärung des Gipfels in Vilnius ist ein fauler und schlechter Kompromiss.

Was sind die Sicherheitszusagen der G7-Länder für die Ukraine wirklich wert?

Masala: Die Sicherheitszusagen sollen die konventionellen Fähigkeiten der ukrainischen Streitkräfte nach Ende des Krieges erheblich stärken. Das schließt die Kooperation der Geheimdienste mit ein. Das ist schon wichtig. Aber der Feind der Ukraine ist eine Nuklearmacht. Die zentrale Frage ist: Wären die G7-Staaten bereit, die Ukraine nach einem Waffenstillstand oder Friedensvertrag gegebenenfalls auch durch den Einsatz von Atomwaffen zu verteidigen? Dazu haben sich die Staats- und Regierungschefs nicht geäußert.

Hätten die G7-Länder für die Zeit nach dem Krieg eine nuklear unterfütterte Sicherheitsgarantie abgeben sollen?

Masala: Wir sehen ja jetzt, wo die Grenzen der militärischen Hilfe für die Ukraine sind: Sie liegen darin, dass auf der anderen Seite eine Nuklearmacht steht. Und dass der Westen nicht in einen Konflikt mit dieser Nuklearmacht hineingezogen werden will. Deshalb wurde zu Beginn des Krieges auch keine Flugverbotszone über der Ukraine errichtet. Hinter all dem steckt die Angst des Westens, in eine atomare Eskalation mit Russland zu geraten. Das ist ein Pfund, mit dem Russland immer wieder wuchern kann.

Noch mal: Der Westen hätte eine Verteidigungsgarantie für die Ukraine abgeben sollen – bis hin zur Drohung, im Notfall auch nukleare Waffen einzusetzen?

Masala: Als Abschreckung für die Zukunft wäre dies ein starkes Mittel. Das Ziel ist, dass Russland nach Ende des Krieges nicht wieder auf die Idee kommt, die Ukraine irgendwann erneut anzugreifen. Ohne eine nukleare Abschreckungskomponente sind die Sicherheitszusagen der G7 nicht viel wert.

Macht die ukrainische Gegenoffensive Fortschritte – oder stagniert sie?

Masala: Sie stagniert. Die Ukraine erzielt zwar seit einer Woche kleinere taktische Gewinne. Aber nirgendwo verzeichnet sie einen Erfolg, der strategische Relevanz haben könnte.

podcast-image

Es gibt Unruhe im russischen Militärapparat. Der Oberbefehlshaber der russischen 58. Armee, Iwan Popow, wurde nach Kritik an der Armeeführung entlassen. General Sergej Surowikin befindet sich offenbar unter Hausarrest. Sind das Indizien für die Schwäche der russischen Armee?

Masala: Nein. Das sind Indizien dafür, dass der russische Präsident Wladimir Putin versucht, nach der Meuterei der Privatarmee Wagner hart durchzugreifen. Er will seine internen Kritiker kaltstellen. Die kaltgestellten Militärs sind durchweg Leute, die die Kritik von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin geteilt haben.

Putin hat Prigoschin erst als „Verräter“ bezeichnet, sich aber Tage später mit ihm getroffen. Ist das ein Machtzuwachs für Prigoschin?

Masala: Nein. Nach dem Treffen wurde die Entwaffnung der Privatarmee Wagner eingeleitet. All dies deutet darauf hin, dass Putin versucht, seine Macht zu konsolidieren. Die Wagner-Meuterei hat Risse im System Putin offengelegt. Die versucht er gerade zu kitten. Ob ihm das gelingt, ist offen.

Der belarussische Staatschef Alexander Lukaschenko hat den Deal zwischen Putin und Prigoschin vermittelt. Gibt es ein neues Macht-Dreieck Putin-Prigoschin-Lukaschenko?

Masala: Überhaupt nicht. Wir wissen nicht einmal, ob Lukaschenko wirklich vermittelt hat. Ich würde Lukaschenko zunächst einmal keinen Glauben schenken, dass Putin ihn um Vermittlung gebeten habe. Lukaschenko sprach in seiner Rede zu den Belarussen, um sich wichtig zu machen.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt