Berlin. Der Kanzler im Briefzentrum, der Verteidigungsminister in Ostfriesland: Der Machtkampf in Russland überraschte die Bundesregierung.

Die Bundesregierung ist von dem Machtkampf in Russland überrascht worden. "Damit hat niemand gerechnet, jedenfalls noch nicht", räumte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius am Samstag ein. Der SPD-Politiker befand sich nicht in Berlin, als er Stellung zu dem Konflikt zwischen der Söldner-Truppe Wagner und der russischen Regierung Stellung nahm, sondern im ostfriesischen Aurich bei einem Parteitag der niedersächsischen SPD.

Dass sich die Lage in Russland zuspitzt, wurde am Freitagabend deutlich. Am Samstag war schließlich klar: Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin stellt sich offen gegen die Militärführung in Moskau. Aus der Bundesregierung hieß es dazu am Morgen zunächst nur knapp: "Die Bundesregierung beobachtet die Ereignisse in Russland aufmerksam." Bundeskanzler Olaf Scholz besuchte am Vormittag noch ein Briefzentrum der Deutschen Post im brandenburgischen Stahnsdorf nahe seines Wohnorts Potsdam.

Bundesregierung hatte im Vorfeld keine Hinweise auf die Eskalation

Koalitionspolitiker erzählten zu dem Zeitpunkt, sie verfolgten die Entwicklung in Russland mit großer Anspannung. Nur wenige äußern sich zunächst öffentlich. Zu volatil sei die Lage, hieß es aus Kreisen der Koalitionsfraktionen. Am Mittag meldete sich Außenministerin Annalena Baerbock zu Wort: "Die Entwicklungen in Russland beobachten wir seit gestern Abend sehr aufmerksam und stehen in engstem Austausch dazu mit unseren internationalen Partnern", erklärte die Grünen-Politikerin auf Twitter. Baerbock fügte hinzu: "Deutsche Staatsangehörige in Russland sollten unbedingt unsere angepassten Reise- und Sicherheitshinweise beachten."

Der Chef der russischen Söldner-Truppe Wagner Jewgeni Prigoschin.
Der Chef der russischen Söldner-Truppe Wagner Jewgeni Prigoschin. © dpa | Uncredited

Das Auswärtige Amt rät Deutschen in Russland seit Samstag, insbesondere die Stadt Rostow am Don sowie deren Umland zu meiden. "In Moskau sollten staatliche, insbesondere militärische Einrichtungen weiträumig umgangen werden", warnte das Auswärtige Amt weiter. "Das Stadtzentrum sollte bis auf Weiteres gemieden werden. Den Anweisungen russischer Sicherheitsbehörden sollte unbedingt Folge geleistet werden." Die plötzliche Verschärfung der Reisehinweise zeigt ebenfalls, dass die Bundesregierung im Vorfeld keine Hinweise auf die Eskalation hatte.

Scholz lässt sich "laufend informieren"

Scholz lasse sich über die Lage in Russland "laufend informieren", hieß es aus der Regierung schließlich am frühen Nachmittag. "Die Lage bleibt ja recht dynamisch, insofern beobachten wir das sehr genau und koordinieren uns auch mit unseren engsten Verbündeten." Zudem ist von einem Regierungssprecher der Zusatz zu erfahren: "Zur Stunde ist kein Statement geplant."

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Weiterhin galt wohl: Noch lagen zu wenig gesicherte Informationen darüber vor, was der Machtkampf in Russland bedeutet – und wie er sich entwickelt. So schilderte es auch ein Außenpolitiker aus der Ampel-Koalition. Es komme nun entscheidend darauf an, ob sich ein bedeutender Teil der regulären russischen Streitkräfte den Wagner-Aufständischen anschließe. Ein Geheimdienstbriefing hatten die wichtigsten Politiker im Bundestag bis zum Samstagnachmittag zur Lage in Russland nicht bekommen.

Pistorius zurück in Berlin: Lagebesprechung im Ministerium

Im Auswärtigen Amt kam jedoch der Krisenstab zusammen. Baerbock sprach zudem mit ihren Kollegen aus den anderen G7-Staaten über die Lage. Auch Scholz sprach sich mit den Verbündeten ab: Der Kanzler habe sich am Nachmittag mit US-Präsident Joe Biden, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und dem britischen Premierminister Rishi Sunak "zur aktuellen Lage in Russland ausgetauscht", teilte Regierungssprecher Steffen Hebestreit mit.

Am Abend schließlich die nächste überraschende Wendung: Wagner-Boss Prigoschin kündigte an, den Vormarsch auf Moskau zu stoppen – er wolle "ein Blutbad" vermeiden. Nahezu zeitgleich teilte das Bundesverteidigungsministerium mit: "Minister Pistorius lässt sich fortlaufend über die Ereignisse in Russland informieren. Am Abend ist er zu einer Lagebesprechung ins Ministerium gekommen." Die Unsicherheit dauerte an.

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