Joana (26) leidet seit ihrer Covid-Erkrankung unter dem Chronischen Fatigue-Syndrom. Wie es sich anfühlt, wenn nichts mehr geht.
- Long Covid wird in Deutschland langfristig 2,5 Millionen Menschen treffen
- Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat nun Pläne vorgestellt, wie er Menschen mit Corona-Langzeitfolgen helfen will
- Zu den Betroffenen zählt die 26 Jahre alte Joana, die unter dem Chronischen Fatigue-Syndrom leidet
Berlin. An guten Tagen kann Joana Besuch empfangen. Ihre Kraft reicht dann aus für eine halbe Stunde. Zum Sprechen, für ein paar Gesten und ab und zu für ein kurzes, kopfschüttelndes Lachen, wenn ihr das, was sie gerade erzählt, furchtbar absurd vorkommt. Joana ist 26 Jahre alt. Im vergangenen Sommer hat sie sich mit Corona angesteckt. Jetzt, acht Monate später, ist sie schon froh, wenn sie sich zum Essen kurz aufrecht hinsetzen kann.
Das erste Treffen mit Joana fällt auf einen Nachmittag im März. Es ist warm in Berlin, die Sonne hat schon Kraft. Draußen, auf den Bänken an der Spree, sitzen sie wieder dicht an dicht, ohne Abstand, ohne Angst. Die Pandemie? Vergessen, so scheint es. Zu Ostern fallen dort draußen die allerletzten Corona-Regeln. Hier drinnen, in der großen Altbauwohnung am Ufer, liegt Joana. Im Dämmerlicht.
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An manchen Tagen braucht sie vollständige Stille, jeder Laut ist zu viel
Der Weg zu ihrem Zimmer führt den langen Flur hinunter, bis ganz ans Ende. Die Fenster gehen hier hinten zum Innenhof, von irgendwo her hört man Kinderstimmen. Vor ein paar Wochen noch hätte Joana solche Geräusche nicht ertragen. Manchmal hat sie mehrere Tage schweigend in vollständiger Stille verbracht, weil jeder Laut zu viel war.
Joana liegt in ihrem Bett. Mal auf dem Rücken, mal auf der Seite. Sie hat ein Stofftier unter den Kopf geklemmt, um beim Sprechen ihr Gegenüber besser anschauen zu können. Aufrichten kostet viel Kraft. Manchmal umfasst ihre Hand die Stoßzähne des Stofftiers. Es ist ein Mammut.
Joana war gerade zum Austauschsemester in Rom, als das Virus sie Anfang Juli erwischte. Sie studiert Technischen Umweltschutz, ein Fach mit Zukunft. Zurück aus Italien wollte sie ihre Masterarbeit schreiben.
Zweieinhalb Wochen liegt sie damals im Sommer mit Symptomen im Bett. Sie ist dreifach geimpft, die akute Erkrankung ist hartnäckig, geht aber schließlich vorüber. Im August fühlt sie sich wieder gesund, Ende des Monats geht sie sogar wieder mit Freunden Wandern. „Meine Vermutung ist, dass diese starke körperliche Belastung ein Auslöser war“, sagt sie heute. Anfang September ist Joana zurück in Berlin. Sie wohnt in einer WG, beginnt einen neuen Studentenjob, geht viel aus. Doch ihr Körper streikt auf einmal.
Bei Joana beginnt es in den Beinen: „Ich hatte so etwas noch nie gespürt“
„Ich hatte das Gefühl, dass meine Beine nicht mehr mit mir mitkommen. Als würde ich gegen einen Widerstand anlaufen. Ich hatte so etwas noch nie gespürt.“ Im Job fällt es ihr zunehmend schwer, sich zu konzentrieren. Zwei Wochen später schafft sie schon kurze Gänge zum Supermarkt kaum noch. Mitte September liegt sie im Bett und hat einen Nullpunkt erreicht: „Ich hatte nicht mal mehr die Kraft zum Sprechen.“ Sie alarmiert ihre Eltern, kommt in die Notaufnahme.
Das Blutbild ist ohne Befund, die Ärzte finden auch keine organischen Ursachen. Als Diagnose notieren sie: Long Covid. „Gehen Sie nach Hause“, heißt es. „Legen Sie sich hin, das wird schon wieder.“ Joana ahnt da schon, dass es anders laufen wird.
Heute weiß sie: Das Virus hat bei ihr das chronische Erschöpfungssyndrom ME/CFS ausgelöst. Die Myalgische Enzephalomyelitis, auch Chronisches Fatigue-Syndrom genannt, ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung. Typischerweise leiden Betroffene unter extrem beeinträchtigter Leistungsfähigkeit, begleitet von schwerer körperlicher wie geistiger Erschöpfung. Eine Standard-Therapie gibt es nicht. Was genau im Körper passiert, ist ebenfalls noch nicht abschließend geklärt.
Oft ist sei zu schwach zum Essen. Längere Texte überfordern sie
Die folgenden Wochen sind ein Auf und Ab. Absolute Erschöpfung ist das dominierende Gefühl. Immer wieder hat sie starke Kopfschmerzen. Joana lebt weiter in ihrer WG, die Freunde kochen für sie, kümmern sich. Oft ist sie zu schwach zum Essen und nimmt sechs Kilo ab. Sie muss lernen, dass ihre Belastungsgrenze rasant schnell erreicht ist. Zehn Minuten am Tisch sitzen – das kann häufig schon zu viel sein. Auch Lesen fällt ihr schwer, längere Texte gehen bis heute nicht. „Ich kann meine Augen nicht mehr richtig fokussieren.“
Kleinste Überforderungen führen zu massiven Verschlechterungen. Es gibt Tage, an denen schafft sie es nicht bis zur Küche. Oder sie schafft es und muss sich einen ganzen Tag lang davon erholen. Post-exertionelle Malaise heißt der Fachbegriff dafür, Crash nennen es die Patienten. Mehrere Crashs hintereinander können die Belastungsgrenze drastisch absenken. An besonders schlimmen Tagen erträgt Joana überhaupt keine Außenreize. Das Geräusch der Wohnungstür, eine neue Nachricht auf dem Handy – „sowas hat mich wahnsinnig gestresst“. Es ist die Angst vor Überforderung, vor einer Abwärtsspirale aus Überanstrengung und Erschöpfung.
Chronisches Fatigue-Syndrom: „Ohne Freunde oder Familie ist es schwierig.“
Was dagegen hilft ist „Pacing“, ein therapeutisches Konzept für das Chronische Fatigue-Syndrom. Das Ziel: Immer unterhalb der Belastungsgrenze bleiben. Was schwer ist, wenn diese Grenze sich jeden Tag ändern kann. Joana, die angehende Umwelttechnikerin, muss lernen, wie Energiemanagement in einem extrem geschwächten Körper geht.
Ende Oktober kommt es nach einer hoffnungsvollen Phase zu einem heftigen Rückschlag. Sie liegt bei ihrem Hausarzt auf der Liege und kann sich nicht mehr bewegen. „So schwach wie da, war ich nie wieder.“ Wieder Notaufnahme, wieder Untersuchungen, wieder gibt es keine organischen Befunde. Sie liegt mit einer schwerhörigen älteren Patientin auf dem Zweibettzimmer. Der Fernseher, die lauten Stimmen, es ist die Hölle. Nach vier Tagen wird sie entlassen.
Sie zieht zu ihren Eltern, in das Zimmer am Ende des langen Flures. Hier, im alten Zuhause, fällt es Joana leichter, auf die Signale ihres Körpers zu achten. Leichter als in der WG, wo alles an ihr Leben vor der Erkrankung erinnert. Ihre Eltern übernehmen das Management ihrer Krankheit, organisieren Arztbesuche, stellen Anträge, verwalten die Befunde. Es ist ein bürokratischer Dschungel. „Ohne Freunde oder Familie, die sich kümmern, ist es schwierig.“
Sechs Monate muss man auf einen Termin in der Fatigue-Ambulanz warten
Doch es geht ihr weiter so schlecht, dass sie bald wieder in die Notaufnahme muss, wieder Untersuchungen, wieder kein organischer Befund. Endlich bekommt sie Anfang Dezember auch eine neurologische Untersuchung. Auch hier ist der Befund unauffällig. Sie bekommt ein paar Tage lang Cortison, danach geht es ihr etwas besser, Freunde kommen zu Besuch. Doch schon Anfang Januar gibt es wieder mehrere Crashs – und Joana zieht sich wieder in ihr stilles Zimmer am Ende des Flurs zurück.
Joana hat inzwischen Pflegegrad 2, ihre Mutter hat ihre Arbeitsstunden reduziert, um mehr Zeit für die Tochter zu haben. „Eine der größten Schwierigkeiten ist es, an gute Informationen zu kommen“, sagt Joana. „Man wird immer an den Hausarzt verwiesen – aber die haben oft keine Ahnung und können einen gar nicht beraten.“ Die Berliner Fatigue-Ambulanz ist eine Anlaufstelle – doch die Wartezeiten sind absurd lang: „Man hat erst nach sechs Monaten einen Anspruch auf einen Termin.“Joana hatte ihren ersten Termin sieben Monate nach Beginn ihrer Erkrankung. Sie hat von Patienten gehört, die abgelehnt wurden, weil ihre Symptomatik nicht schwer genug war.
Die Bundesregierung hat ein großes Versprechen abgegeben: „Zur weiteren Erforschung und Sicherstellung einer bedarfsgerechten Versorgung rund um die Langzeitfolgen von Covid-19 sowie für das chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS) schaffen wir ein deutschlandweites Netzwerk von Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen“, heißt es im Koalitionsvertrag. Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat jüngst ein neues Programm zur besseren Versorgung angekündigt. Bislang fehlt dazu jedoch noch fast alles: die Finanzierung, die Experten, vielerorts auch der Wille, sich mit so komplizierten Fällen zu befassen.
Kann eine Blutwäsche helfen? Der Preis dafür ist hoch
Seit Anfang März geht es bei Joana wieder langsam bergauf. Manchmal schafft sie jetzt 20 Schritte mehr als am Tag zuvor – das ist schon ein Erfolg. Demnächst hat Joana einen Termin für eine Blutwäsche in einer privaten Praxis in Rostock. Die Blutreinigung – medizinisch Apherese – ist ein Verfahren, das bei einigen Patienten zu einer spürbaren Verbesserung der Symptome geführt hat, bei anderen dagegen zeigte sich keine Veränderung. Die Kosten müssen Patienten in der Regel selbst tragen. Joana schätzt, dass sie zwischen 10.000 und 15.000 Euro zahlen muss. Ohne ihre Eltern wäre das nicht möglich.
Ende März sagt Joana am Telefon, dass sie zuversichtlich sei. „Ich möchte daran glauben, dass ich wieder…“, vorsichtig tastet sie sich an das Wort heran, „dass ich wieder gesund werde. Oder zumindest gesünder.“
Die Pandemie ist vorbei, aber das Virus ist nicht verschwunden. Schon gar nicht für Menschen wie Joana. „Die Pandemie lebt in mir drin weiter“, fasst Joana ihre Lage zusammen. Wenn sie demnächst zum ersten Mal wieder vor die Tür geht, hat sich die Welt verändert. „Als mein normaler Alltag aufhörte, trugen alle noch Masken.“ Unvorstellbar ist es für Joana, dass es jetzt wieder normal sein soll, ohne Maske zum Arzt zu gehen. „Es ist doch eine Frage des Anstands, mich und andere zu schützen.“ In ihrem Freundeskreis stecken sich gerade viele wieder mit Corona an.
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