Paris. Erst fiel er tagelang wegen Krankheit aus, nun hat der Hauptangeklagte gestanden. Vor allem die Worte über seine Ex-Frau machen fassungslos.
Eine Woche lang hatte er geschwiegen, sich hinter Nierenproblemen versteckt. Der Gerichtspräsident in Avignon prüfte sogar eine Vertagung des viermonatigen Prozesses mit 51 Angeklagten. Denn ohne den Hauptangeklagten macht eine Verhandlung keinen Sinn. Dominique Pélicot (71) hatte seine eigene Frau zwischen 2011 und 2020 immer wieder betäubt und sie von Männern vergewaltigen lassen, die er auf der – heute verbotenen – Webseite „coco.fr“ kennenlernte. Ohne ihr Wissen, natürlich ohne ihr Einverständnis.
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Am Montag hatte ihm ein Arzt bescheinigt, dass Pélicot aussagen könne, sofern er alle anderthalb Stunden eine viertelstündige Pause einlegen könne. Schon am Dienstagmorgen holten ihn die Wächter aus der Zelle. Grau gekleidet, am Stock gehend, betrat der unauffällig wirkende Organisator dieser unfassbaren Serienvergewaltigung hinkend den prall gefüllten Gerichtssaal.
Vergewaltigungsprozess: Strippenzieher wurde selbst als Kind missbraucht
Kein Geräusch ist zu hören, als Pélicot zu sprechen beginnt. Seine Stimme ist leise, aber er drückt sich klar aus, fast druckreif. Unmissverständlich bekennt er sich zu den jahrelangen Schreckenstaten. „Ich bin ein Vergewaltiger“, sagt er ohne Umschweife. Oder genauer: „Ich bin ein Vergewaltiger wie alle Betroffenen hier im Saal, die über alles im Bild waren.“ Unter den rund 50 anwesenden Mitangeklagten kommt Unruhe auf. Viele von ihnen hatten bei ihrer ersten Vernehmung erklärt, sie seien von einem „Sexspiel“ zwischen Ehepartnern und der Einwilligung der Frau ausgegangen. Diese Frage wird das Gericht bis zum Prozessende im Dezember beschäftigen.
Zuerst ist Dominique Pélicot an der Reihe. Im Raum steht die Frage: Warum? Warum hat der Ex-Elektriker seiner Frau das angetan? Der Gerichtsvorsteher stellt die Frage noch nicht direkt. Pélicot beantwortet sie von sich aus: Er erzählt, er sei in seiner Kindheit zweimal selber missbraucht worden, als Neunjähriger von einem Krankenpfleger, mit 14 auf einer Baustelle. Belege dafür hat er nicht. Für den Missbrauch an seiner Frau schon: Die hatte Pélicot systematisch gefilmt.
Psychiater haben bei ihm eine hochgradige Persönlichkeitsspaltung konstatiert, aber keine eigentliche psychische Krankheit. Gemäß feministischen Prozessbegleiterinnen ist das bei Fällen der „chemischen Unterjochung“, wie man in Frankreich die Betäubung zwecks sexuellem Missbrauch nennt, gar nicht so selten.
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Pélicot belehrt die Anwesenden, als wäre er der Justizpsychologe: „Man kommt nicht pervers auf die Welt, man wird es.“ Das wisse er von einer vierjährigen Psychotherapie, die er in Haft absolviert habe. Aufgeflogen war sein Fall 2020, als er ertappt wurde, wie er in einem Einkaufszentrum Frauen unter den Rock filmte.
Hauptangeklagter in Avignon: „Bitte um Vergebung“
Doch Pélicot verurteilt sich auch selbst: „Ich bin schuldig für das, was ich gemacht habe.“ Er betont, er habe sich nie an seinen Kindern vergangen – obwohl die Ermittler auf seinem Computer auch Fotos von seiner Tochter fanden. Dennoch bittet der Rentner aus dem Provence-Dorf Mazan seine Frau, seine Kinder und eine andere mehrfach vergewaltigte Frau um Verzeihung. „Ich bitte um Vergebung, weil es nicht akzeptabel ist, was ich gemacht habe.“ Sehr einsichtig klingt das nicht.
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Einmal kommen ihm die Tränen. Vielleicht aus Selbstmitleid: „Ich war glücklich mit ihr, anders als mit meiner Mutter, die völlig unterworfen war.“ Psychologenfutter. Juristisch drohen Pélicot 20 Jahre Haft. Das Ausmaß des von ihm organisierten Horrors scheint er indessen nicht zu erkennen: „Ich mache ihr keine Vorwürfe“, sagt er über seine Frau, die er durch andere missbrauchen ließ.
Opfer auch bei Aussage ihres Ex-Mannes zugegen
Dann folgt vielleicht die erstaunlichste Aussage: „Ich gebe zu, sie verdiente es nicht“, sinniert ihr Ex-Mann. Wie das zu verstehen ist und was dieses kleine Wörtchen „es“ meint, nämlich die Abgründe menschlicher Gewalt und Perversion, das lässt der frühere Angestellte des französischen Stromkonzerns EDF geflissentlich weg.
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Und die Frau, die das Martyrium erlitten hat und jetzt neben ihren Kindern im Gerichtssaal sitzt? Gisèle Pélicot (72) hört unbeweglich zu; ihre innere Spannung ist nur daran abzusehen, dass sie immer wieder ihre dunkle Brille aufsetzt und ablegt. Als sie das Wort erhält, sagt sie, wie schwierig die Verhandlung für sie sei. Sie habe „Herrn Pélicot“ – wie sie ihn seit ihrer Scheidung nennt – schließlich fünfzig Jahre lang geliebt und keinen Moment an ihm gezweifelt.
Manchmal ist es fast, als würde das Ehepaar über den Umweg der Gerichtsverhandlung miteinander sprechen. Ist das ein Wunder, nach einem halben Jahrhundert unter einem gemeinsamen Dach und im gemeinsamen Ehebett? Im gleichen Ehebett, in dem er ihr jahrelang ohne ihr Wissen Gewalt antun ließ.