Berlin. Auf Steinartefakten der Berliner Sammlung wurden 40.000 Jahre alte Rückstände eines Klebers entdeckt. Was den Fund besonders macht.

Vorsichtig wickelt Ewa Dutkiewicz eine Steinklinge von Neandertalern aus dem Papier. Mit ihren Fingern, die in weißen Stoffhandschuhen stecken, deutet sie auf eine klitzekleine Stelle. Hier befinden sich Rückstände eines Mehrkomponentenklebers. Über 40.000 Jahre alt, aufgebracht von Neandertalern. Daneben sind Spuren gelber Farbe auf den Steinartefakten zu erkennen. Ocker.

„Ich wusste sofort, was für ein heißes Eisen das ist. Vor allem wegen der Beimischung des Ockers“, sagt Dutkiewicz, Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Museums für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin. Sie hätte alles stehen und liegen lassen und ihren Kollegen Patrick Schmidt aus der Abteilung für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie der Universität Tübingen kontaktiert. Schmidt forscht zu Klebstoff bei den Neandertalern. „Wir wissen, dass Neandertaler Klebstoff verwendet haben, Birkenpech. Aber nicht Mehrkomponentenkleber. Das ist neu, das kannten wir bisher nur aus Afrika“, so die Berliner Archäologin.

Ewa Dutkiewicz vom Museum für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin war sich gleich des Sensationsfunds bewusst.
Ewa Dutkiewicz vom Museum für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin war sich gleich des Sensationsfunds bewusst. © Florian Boillot | Florian Boillot

Archäologie: Was die Kleberreste über Neandertaler aussagen

Dass die Neandertaler zur Herstellung von Klebstoff zwei Komponenten mischten, zeugt von Planungstiefe, so Dutkiewicz. Ocker und Bitumen. „Bitumen ist im Prinzip ein natürlicher Asphalt.“ Erdöl, das über vulkanische Aktivitäten an die Erdoberfläche transportiert werde und sich in Pfützen sammle. „Ein ganz fürchterlich stinkendes Zeug.“

Welches so auch erst einmal nutzlos ist. Es schmiere so stark, dass man es fast nicht mehr von den Händen bekommt. Durch die Zugabe von Ocker wird es brauchbar, eine Masse wie Knete – mit der die Neandertaler Klingen, Schaber und Kratzer präparierten, um effizienter arbeiten zu können. „Sie nutzten also zwei natürlich vorkommende Materialien, um etwas zu produzieren, das so nicht in der Natur vorkommt, ihrer Arbeit jedoch erleichtert. Sie arbeiteten auf ein Ziel hin: Einen Griff für ihre Werkzeuge.“ Lesen Sie auch:Forscher untersuchen uralte Leiche – grausiger Verdacht

Und: Stätten, an denen Bitumen vorkommt, sind 200 Kilometer von der Fundstelle des Steinwerkzeugs, der Ausgrabungsstätte Le Moustier, im Südwesten Frankreichs, entfernt, so Dutkiewicz. Die Ocker-Vorkommnisse nochmal circa 50 Kilometer in anderer Richtung. Neandertaler sind als Sammler und Jäger durch die Gegend gezogen. „Ihnen muss bewusst gewesen sein, dass sie in den Bergen Bitumen finden. Sie haben sowohl an dem einen, als auch an dem anderen Ort in die Zukunft geplant.“ Eine Vielzahl von Denkprozessen, die beim Affen zum Beispiel so nicht vorkämen.

Auf fünf Steinklingen fanden die Archäologen Rückstände des Klebers.
Auf fünf Steinklingen fanden die Archäologen Rückstände des Klebers. © Florian Boillot | Florian Boillot

Berliner Archäologin überzeugt: Klebstoff beweist „menschliche Genialität“ der Neandertaler

55 Prozent Ocker enthalte der neuentdeckte Neandertaler-Kleber. Mehr als erwartet. Doch exakt bei diesem Mischverhältnis sei der Effekt eingetreten, dass die Masse nicht mehr an den Händen kleben bleibt. Das Bitumen wird die frühen Menschen neugierig gemacht haben, davon geht die Wissenschaftlerin aus. Dann hätten die Neandertaler herumprobiert. „Das ist doch die menschliche Genialität. Wir nehmen Dinge, experimentieren damit, verändern sie, bis sie unseren Bedürfnissen entsprechen.“ Dutkiewiczs Begeisterung ist offensichtlich. Ebenfalls interessant:Archäologen entdecken römisches Gefäß – Inhalt überrascht

Archäologie stelle die Frage, wie sich die Kognition des Menschen entwickelt hat. Sein Verhalten, seine Fähigkeiten. Die Analyse von Objekten, wie der Steinartefakte, würden immer wieder neue Erkenntnisse bringen. Lange galten Neandertaler als primitiv und dumm. Dieses Klischee hat sich in den letzten Jahren gewandelt. „Während der Homo sapiens als ‚Feingeist‘ galt, unterschätzte man die Fähigkeiten des Neandertalers lange“, so Dutkiewicz. „Ja, er hat sich in einigen Dingen anders verhalten, als der frühe moderne Mensch, aber eben doch vergleichbar.“ Das unterstreiche auch die Studie, die nun in der Fachzeitschrift „Science Advances“ erschienen ist.

Mit bloßem Auge schwer erkennbar: Die Reste des Neandertaler-Klebers aus Bitumen und Ocker.
Mit bloßem Auge schwer erkennbar: Die Reste des Neandertaler-Klebers aus Bitumen und Ocker. © Florian Boillot | Florian Boillot

Die fünf Steinartefakte, auf denen die Klebereste gefunden wurden, wurden bereits um 1908 von dem Schweizer Archäologen Otto Hauser ausgegraben, aus dem oberen Felsüberhang von Le Moustier geborgen. Von dort gelangten sie in die private Sammlung des Archäologen Alfred Tode, so Dutkiewicz. „Das ist auch das Glück.“ Tode wäre sich der Bedeutung bewusst gewesen, hätte die Objekte richtig verwahrt. „In unprofessionellen Händen wären die Klebereste vielleicht nicht mehr nachweisbar, da die Fundstücke gewaschen oder ausgestellt worden wären.“

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In den 1960er Jahren übergab Tode seine Sammlung an das Museum für Vor- und Frühgeschichte, welches mit dem Schädel eines jugendlichen Neandertalers einen sehr prominenten Fund von Hausers Ausgrabungsstätte Le Moustier beherbergt. Vor zwei Jahren dann beschäftigte sich Gunther Möller, ein Student Dutkiewiczs, für seine Bachelorarbeit mit den 280 Steinartefakten aus Todes Sammlung. Er entdeckte die Ocker-Rückstände auf einigen der Steinklingen, benachrichtige seine Betreuerin, die den Sensationsfund sofort erkannte. Es folgten wissenschaftliche Untersuchungen und Analysen. Es sei eine „minutiöse Arbeit“ gewesen, ein Stückchen von dem eh schon kleinen Kleberest abzutrennen. Denn: „Natürlich wollten wir Klebereste für die Nachwelt erhalten.“

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In Zukunft sollen die Steinwerkzeuge in die Dauerausstellung integriert werden, direkt neben den Schädel derselben Fundstelle. Wann sei jedoch noch offen. Neben Ausstellungen gehören auch die Inventarisierung, Verwahrung, Begutachtung und Erforschung von Objekten zu den Aufgaben von Museen, betont die Wissenschaftlerin. Und: „Die Berliner Sammlungen sind ein unglaublicher Schatz. Was hier schlummert – da werden noch einige Überraschungen kommen.“