Washington. 50 Jahre lang suchten die US-Behörden nach dem Bankräuber „Ted Conrad“. Von dessen filmreifem Doppelleben erzählt heute seine Tochter.
Der Vorort von Boston ist das prototypische Beispiel von „Small Town America“. In der knapp 13.000 Einwohner zählenden Ortschaft Lynnfield kennt jeder jeden. Man geht sonntags zusammen in die Kirche, sieht sich bei den Fußball- und Baseballspielen der Kinder und kauft in denselben Geschäften auf der Market Street ein.
Ashleys Vater Thomas war in Lynnfield beliebt. Er arbeitete als Autoverkäufer, nebenbei als Golftrainer im lokalen „Country Club“ und hatte viele Freunde. Dann erkrankte Thomas mit Ende 60 an Lungenkrebs. Wenige Tage vor seinem Tod – die Familie schaute gerade gemeinsam die US-Polizeiserie „NCIS“ – verriet er seiner Frau und seiner erwachsenen Tochter ein Geheimnis, das ihnen die Sprache verschlug: Er hieß gar nicht Thomas Randele, sondern Theodore Conrad. Und er war auch kein unbescholtener Kleinstädter, sondern ein gesuchter Bankräuber.
Dreister Diebstahl: Bankräuber erbeutet Tausende Dollar
Vor mehr als 50 Jahren hatte Theodore Conrad als Kassierer in einer Bank in Cleveland im US-Staat Ohio gearbeitet. An einem Freitagnachmittag im Juli 1969 stopfte er, völlig unbemerkt, mehr als 200.000 Dollar Bargeld in eine Papiertüte, schloss die Filiale und machte sich auf den Heimweg. Erst am darauffolgenden Montag stellte der Filialleiter fest, dass 215.000 Dollar aus den Barkassen und dem Tresor fehlten – inflationsbereinigt wären das heute 1,7 Millionen Dollar.
Die Ermittler hatten sofort Theodore – alias „Ted Conrad“ – in Verdacht. Fieberhaft fahndeten die lokale Polizei, das Bundeskriminalamt FBI und der U.S. Marshals Service nach dem Bankräuber. Der damals 20-Jährige hatte sich aber längst aus dem Staub gemacht und war spurlos verschwunden. Conrad hatte nämlich das dazwischenliegende Wochenende für eine sorgfältig vorbereitete Flucht genutzt.
Conrad beginnt unter falschem Namen ein neues Leben
Ein knappes Jahr später tauchte er dann in dem tausend Kilometer weiter östlich gelegenen Küstenort Lynnfield auf. Mit gefälschten Papieren, einem anderen Namen und Plänen, als Thomas Randele ein neues Leben aufzubauen. Bis nach seinem Tod waren die Ermittler trotz hartnäckiger Fahndungen, die über die USA hinaus auch auf andere Länder ausgedehnt wurden, außerstande, ihm auf die Schliche zu kommen.
In ihrer sechsteiligen Podcast-Serie mit dem Titel, „Mein Vater der Flüchtling“ („My Fugitive Dad“) erzählt Ashley Randele nun die drehbuchreife Geschichte, für die tatsächlich ein berühmter Kriminalfilm die Vorlage geliefert hatte. Im Jahr vor dem Bankraub war nämlich der Kassenschlager „The Thomas Crown Affair“ mit der Hollywood-Legende Steve McQueen in der Hauptrolle ins Kino gekommen.
McQueen spielte den Multimillionär Thomas Crown, der aus langer Weile einen raffinierten Bankraub inszenierte: Dafür bentutzt er vier Menschen, die einander nicht kennen und auch ihm als Strippenzieher nie begegnen. Nach dem Raub verfolgt Crown das Fluchtfahrzeug, reißt später das in einer Mülltonne deponierte Geld an sich und zahlt die Beute auf ein anonymes Nummernkonto in der Schweiz ein.
Ein Hollywood-Film diente als Inspiration für den Raubzug
Zwar war der damalige Ted Conrad weder schwerreich noch war sein Verbrechen annähernd so ausgeklügelt wie in dem Hollywood-Streifen. Doch erzählt Ashley: „Mein Vater hat sich in den Monaten vor dem Raub den Film immer wieder angesehen, war total darauf fixiert.“ Der Film habe zweifellos die Inspiration geliefert.
Ein ironischer Beweis dafür, so die 38-Jährige, „ist die Tatsache, dass Lynnfield, wo er später ein neues Leben mit meiner Mutter und mir aufbaute, derselbe Ort ist, in dem der Film gedreht wurde“. Auch ist sie überzeugt, dass die Wahl des falschen Namens „Thomas“ eine Art Hommage an „sein Vorbild und Helden Thomas Crown war“.
In ihrem Podcast, dessen letzte drei Episoden direkt nach Weihnachten und dann Anfang 2024 gesendet werden, erzählt Ashley unter anderem von den Gedanken und Fragen, die sie während der vergangenen zwei Jahre geplagt haben. Wie schockiert und außer sich ihre Mutter war, als sie ihr von dem Geständnis erzählte. Wie Ashley Zweifel an ihrer eigenen Identität hatte und sich fragte, welcher denn eigentlich ihr echter Name sei. Auch dämmerte ihr auf einmal, warum ihr Vater niemals ins Ausland reisen wollte – er hatte aufgrund seiner falschen Idenität keinen Reisepass.
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Tochter will der Geschichte ihres Vaters ein Buch widmen
Zwar hatten Mutter und Tochter beschlossen, dass sie erst viel später zur Polizei gehen würden. Die Ermittler kamen ihnen aber zuvor: Ein halbes Jahr nach dem Tod ihres Vaters im Mai 2021 standen Agenten des U.S. Marshals Service bei Ashley und Kathy Randele vor der Tür. Sie hatten einen Tipp bekommen von einer Person, die den gesuchten Verbrecher Ted Conrad anhand seiner Todesanzeige erkannt haben wollte.
Sofort versicherten ihnen die Ermittler, dass die beiden Frauen sich nichts hatten zuschulden kommen lassen und mit keiner Anklage zu rechnen hätten. Unterdessen erwägt Ashley, nach der Fertigstellung des Podcasts auch ein Buch zu schreiben. Nicht zuletzt wegen der befreienden, therapeutischen Wirkung, die es hat, wenn man die Gelegenheit bekommt, sich ein Trauma von der Seele zu reden.