Tel Aviv. Die Hamas ermordete mindestens 300 Besucher eines Festivals. Einige überlebten nur durch Zufall. Musikmanager Raz Gaster war vor Ort.
Es sind mittlerweile sieben Tage vergangen und Raz Gaster hatte noch keine ruhige Minute, um darüber nachzudenken, was da eigentlich genau passiert ist, an jenem Samstagmorgen auf dem Tribe of Nova-Festival, wo er als Musikmanager arbeitete und mehre Künstler betreute, darunter auch der Berliner DJ Piet Kämpfer, der auf dem Festival spielen sollte. „Es war eine wundervolle Nacht, die Menschen tanzten glücklich, lachten und hatten Spaß“, erzählt er. Die Veranstaltung war international besetzt mit Musikern aus Großbritannien, Deutschland, Mexiko und Brasilien.
Mit fast 5000 Besuchern war es für israelische Verhältnisse fast schon eine Großveranstaltung. Nichts deutete darauf hin, dass aus dieser israelisch-brasilianischen Party - Partner war das brasilianische Festival Universo Paralello - die schlimmste Tragödie Israels und der Musikgeschichte werden sollte, mit rund 300 Toten und Hunderten, die immer noch vermisst werden. Ein Anschlag auf die Jugend Israels, aber auch auf die westliche Kultur insgesamt. „Wir befinden uns in einer Ausnahmesituation, in einem Kriegszustand. Für uns geht es aber erstmal darum, das Schicksal jeder einzelnen Person auf dem Festival herauszufinden und die Familien zu informieren“, erzählt Gaster, der sich mittlerweile wieder in seinem Kibutz Amiad im Norden Israels aufhält. Geschlafen habe er seitdem kaum und auch keine Zeit gehabt, die schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten: „Viele Freunde sind tot oder ihr Verbleib noch immer ungewiss: Es ist ein einziger Albtraum“, sagt er.
Anschlag auf Musikfestival: Noch immer werden Menschen vermisst
Dass er diesen Überfall überlebt hat, verdankt Gaster der Entscheidung, auf der Straße nach Norden gefahren zu sein. Wer Richtung Süden fuhr, wurde von den Terroristen der Hamas mit Maschinengewehren und Panzerfäusten erwartet und niedergeschossen. Die Bilder der ausgebrannten und zerstörten Autos erinnern an die Verbrechen in der ukrainischen Stadt Butcha. Der Ort des Festivals war bis zum Beginn der Veranstaltung geheim und wurde den Besuchern erst kurz vorher mitgeteilt. Vielen war gar nicht so genau klar, wo sie sich eigentlich befanden. Viele flohen, ohne zu wissen wohin und hatten in der wüstenähnlichen Gegend kaum Möglichkeiten sich zu verstecken.
Gaster konnte mit seinem Fahrzeug fliehen und rettete mehreren Künstlern und Gästen das Leben. Unter Beschuss von Granaten rasten sie zu einem Haus, eine Stunde entfernt, das als Produktionsstätte diente. Das Gebäude wurde zur militärischen Kommandozentrale und einem Krankenhaus. „Wir waren ja nicht der einzige Ort in Israel, der angegriffen wurde“, sagt Gaster: „Die Armee, Polizei und Hilfsorganisationen mussten an vielen Stellen gleichzeitig sein, also versuchten wir uns selbst zu helfen. Wir riefen jeden an, den wir in Israel kannten: Sicherheitsfirmen, Reservisten, Ärzte“. Einige 100 Besucher hätte man dadurch können, doch noch immer sei unklar, ob die Vermissten entführt wurden oder sich verstecken konnten: „Wir wissen einfach nicht, wo sie sind“, sagt Gaster. Klar sei, dass der junge israelische DJ Syloopo ermordet wurde. „Ob DJ Kido noch lebt, konnten wir bislang nicht herausfinden“, sagt Gaster. Die Liste der vermissten Besucher sei weiterhin erschütternd lang.
Psytrance ist eine bedeutende Jugendkultur in Israel
Die Terroristen der Hamas haben eine Jugendkultur angegriffen, die öffentlich ein Gegenmodell zum religiösen Fanatismus verkörpert. Eine liberale, positive Einstellung zum Leben. Im Verhältnis zur Bevölkerung hat Israel die größte Tranceszene der Welt, überall im Land finden Raves statt. „Psytrance ist seit den 90er Jahren ein fester Bestandteil der israelischen Kultur“, sagt Gaster. Es sei immer auch ein Fluchtort für Juden und Araber gleichermaßen gewesen, die gemeinsam friedlich feiern wollten, statt im Namen der Religion oder der Tradition zu kämpfen. Auf der Tanzfläche sei erstmal jeder gleich, lösten sich die Konflikte der Gesellschaft auf. So zumindest die Hoffnung bislang. „Unsere heile Welt wurde angegriffen – die Tanzfläche“, meint Gaster. Diese Flucht in elektronische Musik gibt es nicht nur in Israel, sondern auch in islamischen Ländern. Der Film „Raving Iran“ porträtiert eine Rave-Kultur im „Sittenwächter-Staat“ Iran, in der die Musik einen kurzen, aber illegalen Ausflug in die Freiheit ermöglicht. Auch in der Westbank, in den palästinensischen Gebieten, ist Techno beliebt.
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Viele junge Israelis benötigen nach der langen Wehrpflicht für Männer und Frauen eine Auszeit. Die Dokumentation „Flipping Out“, die 2008 auf der Berlinale gezeigt wurde, berichtet von israelischen Aussteigern, die versuchen mit Psytrance und Drogen ihr Kriegstrauma zu bekämpfen. Tausende erschaffen sich eine Parallelwelt, tanzen und nehmen Drogen, um die Kriegserfahrungen und den Alltag im Nahen Osten zu vergessen. Doch die Psytrance-Szene ist auch aus anderen Gründen in Israel sehr beliebt. Sie ist die Gegenkultur zu Orthodoxie und Islamismus. Die Besucher wollen so unbeschwert leben wie die Jugend in Europa oder den USA – ohne Krieg und Gewalt. Weil das in Israel aber leider kaum möglich ist, wandern viele junge Israelis mittlerweile aus, unter anderem nach Berlin. Bis zu 30.000 junge Israelis sollen in der deutschen Hauptstadt leben. Genaue Zahlen gibt es nicht. Und auch nicht, wie viele nach dem Überfall der Hamas und der Gefahr eines großen Krieges das Land verlassen wollen oder nach Israel zurückkehren, um für ihr Land zu kämpfen. „Ich glaube, dass wir nach dem tragischen Ereignis auf dem Festival Zeit brauchen, um zu trauern und den Opfern zu gedenken, aber ich hoffe, dass wir am Ende gestärkt daraus hervorgehen werden“, sagt Gaster. Die Musik sei jetzt wichtiger denn je. Man dürfe die Hoffnung auf eine bunte und friedliche Welt nicht verlieren.
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