Tokio. 100 Jahre nach der Erdbebenkatastrophe von 1923 erwartet Tokio wieder ein Mega-Beben. Die Metropole ist gut gerüstet – aber gut genug?
Um die Mittagszeit ist Japans Hauptstadt nicht mehr wiederzuerkennen. Hier liegen Trümmer, dort lodern Häuser. „Während der folgenden drei Tage brannte die Stadt ab. 96.000 Gebäude wurden zerstört, 99.000 Menschen starben“, wird ein von dramatischen Bildern begleiteter TV-Beitrag erklären. Später steigen die Opferzahlen weiter an. Das Erdbeben vom 1. September 1923 gehört zu den größten Katastrophen der japanischen Geschichte. Mit einer Stärke von 7,9 erschüttert es eine Metropolregion mit mehr als drei Millionen Menschen.
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Wer sich 100 Jahre später in Tokio bewegt, könnte vermuten, dies alles sei nicht mehr als Vergangenheit. Immerhin gehört Tokio heute zu den modernsten Metropolen überhaupt. Gerade in Sachen Erdbebensicherheit ist die Stadt führend. Neuere Gebäude sind so konstruiert, dass sie den meisten Beben standhalten können. Ein wenig Rütteln unter den Füßen versetzt keinen Tokioter mehr in Panik.
Experten alarmiert: Tokio droht nächstes großes Erdbeben
Aber Experten warnen seit Jahren: Ein neues großes Beben könnte nur noch wenige Jahre entfernt sein. Im Viertel Bunkyo am Nordostrand des vor 100 Jahren besonders beschädigten historischen Stadtzentrums, macht sich Naoshi Hirata Sorgen. „Die Menschen sind nicht hinreichend auf ein großes Erdbeben eingestellt“, sagt Hirata in einem kleinen Hörsaal und klickt durch eine Powerpointpräsentation. Hirata ist emiritierter Seismologieprofessor am Earthquake Research Institute der Universität Tokio (ERI). Seine Prognose hat Gewicht.
„Unsere Berechnungen veröffentlichen wir regelmäßig“, sagt Hirata. Aber verstanden, so fürchtet er, werden sie kaum. Womöglich sind sie zu bedrohlich, um sie mental zu verarbeiten: Die Wahrscheinlichkeit, dass der Großraum Tokio, mit 37 Millionen Menschen die größte Agglomeration des Planeten, binnen der kommenden 30 Jahre von einem Erdbeben der Stärke 6,7 bis 7,3 erschüttert wird, liegt demnach bei 70 Prozent. Obwohl so ein Beben noch wesentlich schwächer wäre als jenes aus dem Jahr 1923, würden voraussichtlich mehr als 6.000 Menschen sterben.
Erdbeben: Japan gilt als besonders bedroht
„Bei diesen Berechnungen stützen wir uns vor allem auf Erdbeben aus der Vergangenheit“, erklärt der Seismologe. „Zwar gibt es erst seit Ende des 19. Jahrhunderts Seismografen, die Schwingungen in der Erde messen. Um Beben von vor dieser Zeit berücksichtigen zu können, müssen wir auf historische Quellen zurückgreifen.“ Zu dieser Datenbasis kommt die Tektonik hinzu, also die Lehre der Bewegung der Erdplatten. Da unterhalb von Tokio die Pazifische und die Philippinische Ozeanplatte unter die kontinentale Eurasische Platte abtauchen, ist die Erdbebengefahr hier besonders hoch.
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Als Tokio vor 100 Jahren zerstört wurde, hätte man diesen Ort verlassen, die Hauptstadt umsiedeln können. Aber nach anfänglichen Überlegungen wollte die Regierung ihre Metropole erhalten. Die Stadt wurde im Schnelldurchlauf wieder aufgebaut, erstmals mit Regulierungen in Bezug auf Erdbebensicherheit. Als Tokio wie fast alle japanischen Großstädte im Zweiten Weltkrieg durch Luftangriffe zerstört wurde, begann der Wiederaufbau aufs Neue. Doch hierin bestanden auch Chancen, sagt Naoshi Hirata: „Generell gilt: Je jünger die Gebäude, desto sicherer sind sie vor Beben.“
Sichere Gebäude, Schulungen: Tokio will Bürger sensibilisieren
Tatsächlich fällt im globalen Vergleich auf, wie relativ gering die Schäden durch Erdbeben heute sind, wenn sie sich unter japanischem Boden ereignen. Ein Beben wie jenes, das sich im Frühjahr 2023 unter der Türkei und Syrien zutrug und um die 60.000 Todesopfer forderte, wäre in Japan wohl deutlich weniger tödlich ausgegangen. Der Weltrisikobericht der Ruhr-Universität Bochum listet Japan als eines jener Länder, die den weltweit höchsten Risiken für Erdbeben gegenüberstehen, zugleich aber am wenigsten verwundbar sind, wenn sie eintreten.
Neben Gebäudestandards liegt dies an regelmäßigen Schulungen. Jährlich führen Arbeitgeber, Behörden und Schulen Übungen zum Evakuieren und Ducken unter Tischen durch. In praktisch jedem Büro in Japan sind pro Arbeitskraft ein Schutzhelm und ein Rucksack mit Proviant aufbewahrt. Medien machen regelmäßig auf die Gefahren aufmerksam. Im führenden TV-Sender ANN berichtete diese Tage eine 107-jährige Zeitzeugin vom Erdbeben 1923: „Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen. Alles Mögliche flog durch die Luft, ich selbst auch.“ Irgendwie überlebte sie.
Einheimische wollen Schutzmaßnahmen nicht mittragen
Ebenso wenig vorstellbar scheint, dass der Schaden eines Erdbebens auf ein Minimum reduziert wird, wie von den Seismologen um Naoshi Hirata immer wieder angemahnt. Gerade im historischen Kern Tokios stoßen Fußgänger immer wieder auf Gebäude, die weitgehend aus Holz bestehen. In rund 300.000 alten Holzhäusern leben bis heute 1,8 Millionen Menschen, insbesondere Hochbetagte. Aber der alte Baustil ist heute auch bei jungen Menschen beliebt. In einem dieser alten Gebäude ist das Café Kayaba im Viertel Yanaka, nur einen guten Kilometer Earthquake Research Institute entfernt.
„Dieses Haus wurde im Jahr 1916 errichtet“, erklärt eine hip gestylte, junge Frau, während sie an einer modernen Kaffeemaschine Getränke zubereitet. Sie blickt mit Stolz durch das kleine Geschäft. „Wir haben uns bemüht, das alte Design beizubehalten.“ Auf sozialen Medien ist Kayaba ein Hit. Naoshi Hirata muss milde lächeln, wenn er von solchen Geschäftsmodellen hört. „Nachdem wir die Regierung beraten haben, bietet der Staat Subventionen an, damit diejenigen, die im Besitz sehr alter Gebäude sind, diese rundum renovieren lassen. Aber das wird kaum wahrgenommen.“ Vielen Menschen in Tokio geht das Herz auf, wenn sie alte Gebäude aus Holz sehen. Wobei kaum jemand daran denkt, dass solche Gebäude es sind, die im Ernstfall wohl Leben kosten würden.
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