Berlin. Mit Schuldgefühlen umgehen: Eine Therapeutin und eine Theologin sprechen über das Verzeihen in schwierigen Eltern-Kind-Beziehungen.

  • Nicht alle Eltern-Kind-Beziehungen sind so unbelastet, wie man es sich wünschen würde
  • Doch was ist, wenn die Beziehung zur Mutter oder zum Vater gänzlich zerbricht?
  • Zwei Expertinnen über das Verzeihen am Sterbebett und den Umgang mit Schuldgefühlen

Kaum ein Band ist von Natur aus so stark wie das zwischen Eltern und Kindern. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Beziehung konfliktfrei ablaufen muss – im Gegenteil. Myrna Ritter ist systemische Therapeutin aus Essen und kennt Fälle, in denen Verletzungen und Differenzen so groß sind, dass es zum Kontaktabbruch mit den eigenen Eltern kommt. Manchmal vergehen Jahrzehnte, bis es wieder zu einer Annäherung kommt, und das nicht selten dann, wenn ein Elternteil mit der eigenen Vergänglichkeit konfrontiert wird. Aber muss man am Sterbebett vergeben?

„Nein“, sagt Myrna Ritter. An allererster Stelle stünde die eigene mentale Gesundheit – und das könne eben auch bedeuten, dass man sich gegen einen Besuch am Sterbebett entscheidet. „Ich hatte eine Klientin, die noch sehr in Wut und Verzweiflung über ihre Mutter war“, erzählt sie. „Sie sagte, sie gönne ihrer Mutter diesen letzten Augenblick nicht, in dem sie entweder die Vergebung ihrer Tochter bekommt oder erneut die Gelegenheit, sie zu verletzen und zu demütigen“. Die Vorstellung der Mutter oder des Vaters, die/der am Sterbebett Einsicht und Reue zeigt, sei eine romantische Idee und man käme sich fast schlecht vor, ihr diesen Wunsch zu verweigern, so die Therapeutin. Dennoch findet sie es wichtig, den Gesamtkontext im Blick zu halten. Wenn ein erwachsenes Kind jahrelang keinen Kontakt zu einem Elternteil hatte, kann der plötzliche Wunsch nach Annäherung, je nachdem was vorgefallen ist, zu einem großen Dilemma werden.

Therapeutin: Unter dieser Bedingung sollten Sie sich den Eltern stellen

„Die Bandbreite reicht von mangelnder Liebe und Aufmerksamkeit bis zu körperlicher oder psychischer Misshandlung“, erklärt sie. Eine Voraussetzung dafür, sich dem Elternteil nochmal zu stellen, sei für sie eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. „Im besten Fall hat man für sich erkannt, dass auch Eltern eine Geschichte haben, die vermutlich dazu beigetragen hat, dass sie sich so verhalten haben“, sagt sie. Es sei wichtig, mit sich und seiner Geschichte in Frieden zu sein und Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen: „Der Vater hat vielleicht den Grundstein für viele Selbstzweifel, Ängste und Sorgen gelegt, doch heute bin ich diejenige, die darüber entscheidet, was ich aus meinem Leben mache. Heute sorge ich selbst dafür, dass es mir gut geht und ich bin dabei, über mich, meine Eltern und meine Glaubenssätze hinauszuwachsen“, erklärt sie.

Myrna Ritter, Therapeutin, kennt viele Fälle, in denen es zum Kontaktabbruch zwischen Eltern und Kindern kommt.
Myrna Ritter, Therapeutin, kennt viele Fälle, in denen es zum Kontaktabbruch zwischen Eltern und Kindern kommt. © Lichtschacht Studio für Fotografie EsseN

Gesine Palmer ist Theologin und arbeitet regelmäßig als Trauerrednerin. Das bedeutet, sie hat nicht mit den Sterbenden selbst, sondern mit ihren Hinterbliebenen zu tun. Am Ende eines Vorgesprächs stelle sie oft die Frage, was Sie der verstorbenen Person sagen würden, wenn sie nochmal in guter Verfassung vor Ihnen stünde. „Da wird es dann meistens emotional“, sagt sie. „Manchmal kommt: Ich habe alles gesagt. Ich habe gesagt, wie lieb ich sie habe und dass ich ihr verzeihe“. Es gebe aber auch Leute, die sagen: Was ich der Person wirklich mitgeben würde, möchten Sie gar nicht hören. Sie selbst findet, dass man den letzten Augenblick nicht überschätzen sollte: „Das Gute bleibt genauso wie das Schlechte“. Das Thema „Vergebung“ betrachtet sie allgemein kritisch. „Ich kann für etwas, was ich falsch gemacht habe, um Vergebung bitten, aber ich kann niemals verlangen, dass mir jemand vergibt“, sagt sie.

Eigene Gefühle verstehen: Vergebung ist nicht das Wichtigste

Vergebung würde gerade in der systemischen Therapie oft im Kontext mit seelischer Heilung betrachtet werden. Eine Entwicklung, der die Theologin kritisch gegenüber steht: „Ich glaube, man muss nicht vergeben und manchmal kann man auch nicht vergeben“. Viel wichtiger als die Vergebung selbst, findet sie die Bitte darum. „So kann jemand, der selbst etwas Schlimmes getan hat, die Ordnung, gegen die er sich versündigt hat und vielleicht auch die Achtung vor sich selbst und vor jemand anderem, ein Stück weit wiederherstellen“. Fragt man sie nach ihrer persönlichen Meinung, ob man am Sterbebett vergeben muss, ist die Antwort also deutlich: „Nein, muss man nicht“, so die Theologin. „Ich denke trotzdem, dass man dem Sterbenden die Möglichkeit geben sollte, darum zu bitten, weil ich weiß, wie lange sich Menschen manchmal damit quälen, es nicht getan zu haben“.

Theologin Gesine Palmer arbeitet regelmäßig mit den Hinterbliebenen von todkranken Menschen. Dabei wird es oft emotional. Trotzdem ist sie der Meinung, dass man nicht unbedingt vergeben muss.
Theologin Gesine Palmer arbeitet regelmäßig mit den Hinterbliebenen von todkranken Menschen. Dabei wird es oft emotional. Trotzdem ist sie der Meinung, dass man nicht unbedingt vergeben muss. © Gaelle de Radigues | Gaelle de Radigues

Ein Punkt, den auch Myrna Ritter wichtig findet. „Ich würde meinen Klienten und Klientinnen vorab immer raten, ihre Erwartungen und Gefühle aufzuschlüsseln: Erwarte ich, dass mein Vater oder meine Mutter mir sagt, dass er oder sie mich liebt? Kann ich im schlimmsten Fall mit weiteren Demütigungen oder Verletzungen umgehen? Und: Kann ich das Schuldgefühl, wenn ich mich gegen einen Besuch entscheide, aushalten?“, erklärt sie. Dabei gelte es abzuwägen, welcher Preis der höhere ist. „Wenn ich den Eindruck habe, im Nachgang von Schuldgefühlen zerfressen zu werden, ist das womöglich schlimmer, als nochmal zum Vater oder der Mutter zu gehen und dasselbe zu bekommen, was ich mein Leben lang bekommen habe: zum Beispiel zu hören, dass ich ein Nichtsnutz bin“.

Egal wie die Entscheidung am Ende aussehe, niemand könne wissen, was kommt. „Das heißt, einen Preis zahle ich immer und es ist gut, wenn ich mir vorher die Zeit genommen habe, alle realistischen Eventualitäten durchzuspielen und zu überprüfen, welche Variante für mich die gesündeste, sicherste und beste ist“, so die Therapeutin.