Domburg. Die Niederlande wappnen sich gegen die Bedrohung durch den weiter steigenden Meeresspiegel. Eine der Ideen würde vieles gewaltig verändern.

  • Die Niederlande suchen nach Wegen, sich vor dem weiteren Anstieg des Meeresspiegels zu schützen.
  • In der Debatte ist auch ein See-Deich im Meer, der die Küste des Landes total verändern würde.
  • Die Auswirkungen auf die Natur wären gravierend. Auch auf den Tourismus?

Die Autokennzeichen verraten es: Das halbe Ruhrgebiet und Rheinland macht gern in der niederländischen Provinz Zeeland Urlaub, so auch in den jüngst gestarteten Sommerferien 2024. Nur drei bis vier Stunden Fahrtzeit mit dem Auto: Mehr Meer so nah vor der Haustür gibt es von NRW aus nicht. Doch das muss nicht so bleiben. In den Niederlanden wird diskutiert, wie sich das Land in den kommenden Jahrzehnten vor dem weiteren Anstieg des Meeresspiegels schützen kann.

Niederlande wollen sich vor neuen Fluten schützen

Dazu gehört auch ein Mega-Projekt, das bisher eher als Utopie gehandelt wurde: Ein im Meer bis zu 25 Kilometer vor der bisherigen Küste Zeelands aufgeschütteter See-Deich, 19 Meter über Wasser hoch, von Westkapelle bis kurz unterhalb von Rotterdam zum Hoek van Holland. Doch in den Überlegungen zum Ausbau des Küstenschutzes ist mittlerweile auch eine „zweite Küstenlinie“ ernsthaft im Gespräch.

Dieser See-Deich würde die gesamte Provinz Zeeland mit ihren sechs Inseln und Halb-Inseln nordöstlich der Schelde-Mündung vom Meer abschneiden. Entstehen würde durch diesen See-Deich eine Art neues Ijsselmeer, also ein Binnensee mit etwa 1900 Quadratkilometern Fläche - und Süßwasser. Beliebte Urlaubsorte wie Domburg, Oostkapelle oder Renesse lägen dann nicht mehr „aan Zee“.

Der Deich in Westkapelle. Der als Idee für den zukünftigen Hochwasserschutz vorgestellte Mega-Damm würde hier seinen Anfang nehmen und bis kurz unterhalb von Rotterdam führen.
Der Deich in Westkapelle. Der als Idee für den zukünftigen Hochwasserschutz vorgestellte Mega-Damm würde hier seinen Anfang nehmen und bis kurz unterhalb von Rotterdam führen. © Privat / Dagobert Ernst | Privat / Dagobert Ernst

Ideen vom Erhöhen von Deichen bis zum „Meerwärts denken“

Jüngst vorgestellte Berechnungen machen Hoffnung, dass die Niederlande einem weiteren Anstieg des Meerespiegel um gar bis zu fünf Meter Stand halten könnten, ohne dass weite Teile des Landes aufgegeben werden müssten. Das war die Kern-Botschaft auf dem Kongress zum „Sea Level Rise Knowledge Programme“ Anfang März in Bussum bei Amsterdam, der national größte Aufmerksamkeit fand. Doch dazu müssen die Niederländer ihren Hochwasserschutz weiter erheblich ausbauen.

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Die Optionen reichen vom Erhöhen bisheriger Deiche, dem Aufgeben von Landstrichen mit höchstem Überflutungsrisiko bis zum Mega-Projekt eines See-Deichs, wie ihn der niederländische Küstenschutz-Visionär Rob van den Haak vor gut 20 Jahren erstmals präsentiert hatte. Seit van den Haaks Tod 2019 ist der Elektrotechnik-Ingenieur Dick Butijn Kopf der Nicht-Regierungsorganisation tweedekustlijn.nl, die die Idee See-Deich vorantreibt.

Nicht nur der Meeresspiegel ist ein Problem - auch Starkregen in den Flüssen

„Wir sind überzeugt, dass das Projekt so schnell wie möglich realisiert werden sollte“, sagt der 69-Jährige. Grund sei „die Zunahme der extremen Wasser-Abflüsse in den Flüssen.“ Der Anstieg des Meeresspiegels spiele erst ab etwa dem Jahr 2050 eine wichtige Rolle, sagt Butijn. Doch bereits jetzt zeige sich: „In den letzten Jahrzehnten kam es häufiger zu Situationen, in denen die Flussdeiche gerade noch hoch genug waren.“

Langfristig sei es nicht möglich, die Fluss-Deiche weiter zu erhöhen, sagt Butijn, „da der steigende Meeresspiegel das Wasser der Flüsse zunehmend daran hindert, frei zu fließen, was zu extrem hohen Flusspegeln und Überschwemmungen führt.“ Der durch den See-Deich entstehende Küstensee vor Zeeland, dessen Niveau auf dem derzeitigen Meeresspiegel gehalten werden würde, „dient in erster Linie dazu, dass die Flüsse frei fließen können.“

In den Niederlanden läuft die Debatte, wie Küste und Land in den kommenden Jahrzehnten vor dem weiteren Anstieg des Meeresspiegels geschützt werden könnten. Eine der Ideen ist ein Mega-Projekt, dass dazu führen würde das z.B. beliebte Reiseziele wie Domburg (Foto: Strandpavillon westlich von Domburg) und Renesse nicht mehr direkt am Meer liegen würden.
In den Niederlanden läuft die Debatte, wie Küste und Land in den kommenden Jahrzehnten vor dem weiteren Anstieg des Meeresspiegels geschützt werden könnten. Eine der Ideen ist ein Mega-Projekt, dass dazu führen würde das z.B. beliebte Reiseziele wie Domburg (Foto: Strandpavillon westlich von Domburg) und Renesse nicht mehr direkt am Meer liegen würden. © Privat / Dagobert Ernst | Privat / Dagobert Ernst

„Ein Küstensee verringert die für die Ableitung von Flusswasser erforderliche Pumpleistung, da mehr Wasser zwischengespeichert werden kann“, erklärt eine Sprecherin von Rijkswaterstaat, der für Bau und Unterhalt von Straßen und Wasserwegen zuständigen Behörde. Mit Blick auf den künftigen Anstieg des Meeresspiegels sieht man dort einen See-Deich aber derzeit nicht als zwingend an: „Bis zu einer Höhe von mindestens drei und wahrscheinlich fünf Metern bietet auch die Verstärkung des derzeitigen Hochwasserschutzes weiterhin einen ausreichenden Schutz gegen den Anstieg des Meeresspiegels“, sagt die Sprecherin.

See-Deich vor Zeeland? „Drastische Veränderungen brauchen Zeit“

2026 sollen die Grundlagen im „Forschungsprogramm Meeresspiegelanstieg“ komplett sein, hieß es auf dem Kongress. „Endgültige Entscheidungen werden dann aber noch nicht getroffen werden“, sagt ein Sprecher der Provinzverwaltung Zeeland: „Letztendlich liegt die Entscheidung über derartige Projekte in der Verantwortung der nationalen Regierung.“ Dick Butijn sagt, die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung befürworte die Idee eines See-Deichs vor der Küste. „Nur ein sehr kleiner Teil der niederländischen Bevölkerung ist der Meinung, dass wir das Land dauerhaft überfluten lassen sollten.“ 

Der niederländische „Delta-Beauftragte“ Co Verdaas, bei dem alle Fäden von Behörden und Institutionen zum Schutz der Niederlande vor Überschwemmungen und einer sicheren Versorgung mit Süßwasser zusammenlaufen, mahnte auf dem Kongress: „Wir müssen anfangen, die Richtung vorzugeben. Drastische Veränderungen brauchen Zeit.“

Strandidyll bei Domburg: Wo bisher die Nordsee anlandet könnte in den kommenden Jahrzehnten ein Binnenmeer geschaffen werden. Sofern die Idee einer „zweiten Küstenlinie“ in die Tat umgesetzt wird.
Strandidyll bei Domburg: Wo bisher die Nordsee anlandet könnte in den kommenden Jahrzehnten ein Binnenmeer geschaffen werden. Sofern die Idee einer „zweiten Küstenlinie“ in die Tat umgesetzt wird. © Privat / Dagobert Ernst | Privat / Dagobert Ernst

Zeeland-Urlauber müssen sich noch nicht sorgen, dass ihr Meer - auf Niederländisch Zee - alsbald ein Binnensee wird - niederländisch „Meer“. Die Dimensionen des Damm-Projekts stellen selbst das Mega-Projekt der Delta-Sperrwerke in den Schatten. Das Schutzsystem aus Sperrwerken und künstlich aufgeschütteten Dämmen und Inseln wurde nach der Flutkatastrophe vom Januar 1953 ersonnen und 1997 nach insgesamt 45 Jahren Planungs- und Bauzeit komplettiert. Dick Butijn etwa schätzt, dass ein See-Deich vor Zeeland etwa 15 Jahre Bauzeit brauche. Das Baumaterial sei hauptsächlich Sand, der jedoch direkt vor Ort „aus den neu entstehenden Küstenseen gewonnen werden kann.“ Was technisch möglich ist, zeigt zum Beispiel die künstliche Insel „Palm Jumeirah“ vor Dubai.

Ab zwei Meter Meeresspiegel-Anstieg müssten Flussmündungen wohl geschlossen werden

Die ökologischen Folgen des weiteren Anstiegs des Meeresspiegels dürften für die Niederlande gravierend sein. Im derzeit extremsten Klimaszenario des Königlichen Meteorologischen Instituts der Niederlande (KNMI) wird der Meeresspiegel im Jahr 2150 um zwei Meter höher sein als heute. In einem anderen Szenario erst im Jahr 2300 - sofern das Pariser Klimaabkommen zur Co2-Reduzierung eingehalten wird. Doch inzwischen zeigt sich, dass die Erderwärmung von Februar 2023 bis Januar 2024 erstmals zwölf Monate lang über diesen 1,5 Grad lag.

Sollten jedoch die Antarktis-Gletscher abschmelzen, wären die zwei Meter bereits im Jahr 2100 Realität, sagt die Rijkswaterstaat-Sprecherin. Das hätte weitere Konsequenzen, hieß es auf dem Kongress. Ab zwei Metern „müssen die Flussmündungen möglicherweise geschlossen werden“, damit das Salzwasser nicht weiter ins Land vordringt und die Süßwasserversorgung gefährdet. Der Blick fällt dabei vor allem auf Rhein, Maas und Schelde.

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Doch was würde aus den gefährdeten Naturschutzgebieten wie etwa De Manteling auf der Insel Walcheren, wenn der See-Deich kommt? Der Wechsel von Ebbe und Flut würde verschwinden und die Natur, wie es heißt, „völlig auf den Kopf stellen.“ Die Vielfalt von Flora und Fauna würde sich dort „drastisch verringern“. Und welche Konsequenzen ergeben sich etwa für den Hafen Rotterdam, wo Hochsee- und Binnenschifffahrtsbereich getrennt werden müssten?

See-Deich in der Nordsee: Enorme technische Herausforderungen

Viele Fragen sind noch ungeklärt. „Muschel- und Austernfischer werden an die neue Küste umziehen müssen“, sagt Dick Butijn. Das aber könne man baulich gut einplanen. Touristisch würden sich gar neue Chancen eröffnen, durch die neue Küste, meint er.

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Die Kosten können noch gar nicht abgeschätzt werden, sie liegen im zwei- bis dreistelligen Milliarden-Euro-Bereich. Nach derzeitigem Preisniveau. Noch handle es sich jedoch bei allen auf dem Kongress präsentierten Ideen um „Denkansätze“, hieß es zudem. Die Unterstützer des See-Deichs denken indes viel größer. Zum Schutz West-Europas würde ihr See-Deich gar von Calais bis Göteborg reichen.

Damm zwischen Schottland und Norwegen? Warn-Szenario von Ozean-Forschern

Ein ähnliches Mega-Projekt hatten Ozean-Forscher übrigens im Februar 2020 präsentiert, als möglichen Schutz Europas vor einem immensen Anstieg des Meeresspiegels im Jahr 2500. Unter der Annahme, „die Weltgemeinschaft schafft es nicht, die Klimaerwärmung langfristig zu stoppen.“ Ergebnis: Im Kern geht es um zwei Dämme, um den Ärmelkanal abzuschotten und Schottland mit Norwegen zu verbinden. Gesamte Länge an die 660 Kilometer. Die Nordsee würde dann langsam zu einem Süßwasser-Binnensee. Klingt irre? Wird noch ‚irrer‘: „Die mittlere Wassertiefe beträgt im Bereich des Damms im Ärmelkanal 85 Meter, in der nördlichen Nordsee 127 Meter bis gar mehr als 320 Meter“, heißt es in der Studie.

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Nach bisherigen Maßstäben sei ein solch‘ gigantischer Damm „völlig unvorstellbar“, wird Ko-Autor Prof. Joakim Kjellsson vom Geomar Zentrum für Ozeanforschung in Kiel in einer Mitteilung zitiert. Doch die Studie wollte vor allem ausmalen, was dereinst der Menschheit an Herausforderung droht, wenn sich die Klimaerwärmung nicht stoppen lässt.

Ein See-Deich in der Nordsee vor Zeeland hätte übrigens ‚nur‘ etwa 20 Meter Wassertiefe zu überwinden. Baulich machbar, urteilen Experten.

>> Hintergrund: Eine zweite Küste von Zeeland bis zur Insel Texel

Zehn der 17 Millionen Menschen in den Niederlanden leben in Regionen, die tiefer als der Meeresspiegel liegen. Gäbe es keine Deiche und Schöpfwerke, stünden die Landesteile westlich einer Linie von Groningen, Zwolle, Utrecht und Breda „bei jedem normalen Tidehochwasser weitflächig unter Wasser“, ist im Diercke Weltatlas zu lesen. Die Gemeinde Nieuwerkerk an der Ijssel bei Rotterdam ist der tiefstgelegener Ort der Niederlande mit 6,74 Meter unter Meereshöhe.

Ein See-Deich im Meer könnte nach Einschätzung der Projekt-Initiatoren der Organisation tweedekustlijn.nl die Niederlande gar vor einem Anstieg des Meeresspiegels um bis zu 15 Meter schützen. Der See-Deich wäre unter der Wasseroberfläche etwa 3,5 Kilometer breit, darüber 700 Meter. Er wäre insgesamt 39 Meter hoch, davon 20 Meter unter der Meeresoberfläche. Von Westkapelle bis zum Hoek van Holland wäre der Deich etwa 60 Kilometer lang. Zwei weitere Abschnitte könnten gar der gesamten westlichen Nordseeküste bis unterhalb der Insel Texel vorgelagert werden, sagen die tweedekustlijn-Vordenker - etwa 160 Kilometer. Doch sie denken noch größer. Ihnen schwebt ein See-Deich von Calais bis Göteborg vor, der etwa 1000 Kilometer lang sein würde. Alles als Schutz vor den Folgen des Klimawandels.

>> Hintergrund II: Zeeland ist bei Touristen aus NRW sehr beliebt

Insgesamt 13,5 Millionen Übernachtungen zählten die Touristiker der Provinz Zeeland im Jahr 2023. Das waren 13 Prozent mehr als im Jahr davor und 21 Prozent mehr als 2019. Die Delle, die die Corona-Pandemie verursacht hatte, ist inzwischen deutlich überwunden. Auch für 2024 rechnet man in Zeeland mit starkem Zuwachs, der vor allem aus Deutschland zu verzeichnen war, erklärt ein Sprecher der Provinz auf Anfrage; An die sechs Millionen Übernachtungen waren von Gästen aus Deutschland. „Nach wie vor kommen Urlauber vor allem wegen der Küste nach Zeeland - nicht nur zum Sonnenbaden und Schwimmen, sondern um die Küstenlandschaft zu genießen, zu wandern und Rad zu fahren“, sagt er. Ob ein See-Deich daran mal etwas ändern würde? Mit der Frage beschäftige man sich noch nicht. Drängender ist es laut Provinz, den Andrang von Reisenden besser zu verteilen: „Der Klimawandel könnte dazu führen, dass sich noch mehr Menschen für unsere Region entscheiden“, wenn es ihnen in südlichen beliebten Reiseländern in Europa zu heiß sei, sagt er. „Ein insgesamt wärmeres Klima könnte vielleicht auch dafür sorgen, dass wir in der Vor- und Nachsaison mehr Menschen begrüßen können; das passt zu unserem Ziel, die Zahl der Menschen zeitlich und räumlich etwas mehr über das Jahr zu verteilen.“

(dae)