Erndtebrück. „Es war ein riesiges Tohuwabohu.“ Der 1. Weltkrieg hatte eine bedeutende Auswirkung auf Erndtebrück – und machte viele Bürger zu Dieben.
Erndtebrück war zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur ein kleines Eisenbahnerdörfchen – dennoch wirbelten der 1. Weltkrieg und ganz besonders seine Nachwehen das Leben in der kleinen Gemeinde gehörig durcheinander.
„Es war ein riesiges Tohuwabohu.“ In einer Tonspur, zu finden auf der Homepage des Erndtebrücker Heimatvereins, berichtet der mittlerweile verstorbene Erndtebrücker Paul Friedrich von den Bildern, die sich ihm in den Jahren 1914 bis 1919 in Erndtebrück boten: „Das ist ein ganz großes Erlebnis gewesen.“ Noch genau erinnern könne er sich an die Szenen vom Abschied am Bahnhof, als die ersten Eingezogenen an den ersten Tagen der Mobilmachung 1914 Erndtebrück verließen.
„62 Mal ist die Nachricht nach Erndtebrück gekommen, dass einer dieser Eingezogenen gefallen oder vermisst sei“, ist Friedrich auf der Tonspur zu hören, wie er an die Kriegstage zurück denkt. Jedes Mal, so berichtet er, wenn ein Erndtebrücker als gefallen oder vermisst gemeldet wurde, wurde in der Kirche ein Gottesdienst veranstaltet. „Auch die ersten Siege dieses Krieges wurden von den Kirchenglocken eingeläutet, wie die Einnahme von Lüttich oder Antwerp oder auch die siegreichen Kämpfe bei Verdun. Das wurde durch ein Siegesgeläut bekannt gegeben.“
Kriegsende macht sich bemerkbar
Es dauerte jedoch nicht lang, bis die Siegesgeläute weniger wurden und schließlich ganz verstummten. „1918 brach die Revolution aus, der Krieg war verloren, das Kaiserreich brach zusammen und der Kaiser war nach Holland geflohen. Und dieser Zusammenbruch machte sich in Erndtebrück sehr deutlich bemerkbar.“ Denn, so berichtet Friedrich: „Erndtebrück wurde als Eisenbahnknotenpunkt zu einem Knotenpunkt der zurückflutenden Truppen.“ Die Armee zog sich zurück und berührte von allen Richtungen die kleine Edergemeinde: „Die Truppen kamen von Lützel, von Netphen, über die Benfe, über die neue Chaussee an der Wabrich oder ach über die Zinse. Erndtebrück war damals also ein zentraler ort im November 1918“.
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Und weil Erndtebrück zu einem solchen Knotenpunkt geworden wurde, entstand hier auch eine große Truppenversorgungszentrale. „Im Bahnhof standen sieben große Verpflegungszüge mit allem, was ein Heer benötigt“, so Friedrich. Und es kam, was nach vier zehrenden Kriegsjahren kommen musste: Die Verpflegungszüge wurden zum begehrten Anlaufpunkt für die Erndtebrücker. „Abends ballerten von der Berliner Straße die Maschinengewehre über die Züge. Erndtebrück war ein ort vieler, vieler Diebe geworden. Es wurde gestohlen, was nicht niet- und nagelfest war.“ Auch lebendes Vieh war nicht sicher. „Eines Tages kam hier ein Güterzug mit 400 Stück Vieh aus dem Allgäu an. Die sollten hier geschlachtet werden und zur Verpflegung der Truppen dienen. Auch das bot wieder Anlass für viele Diebstähle und manche Kuh und mancher Ochse ist damals in den Ställen von Erndtebrück verschwunden“, erinnert sich Friedrich.
Das Blut floss die Straße herunter
Ein Bild, das sich bei Friedrich besonders eingeprägt hatte, war eines, was von der Schlachtung des Viehs verursacht wurde. „Ich erinnere mich, damals als Junge gesehen zu haben, wie das blut die Bergstraße herunter floss. Da wurde in Massen das Vieh abgeschlachtet und dann an die Truppen hier verteilt.“ Auch die Kirche blieb nicht verschont. Dort waren die Pferde und durchziehende Truppen untergebracht – sehr zum Leid des Pfarrers.
„Am Weihnachtsabend wollte er einen Gottesdienst abhalten, aber die Soldaten haben lustig weiter getrunken und geraucht und allen möglichen Unfug getrieben. Der Pastor war erschütterte.“ Für die Jugendlichen hingegen sei es eine spannende Zeit gewesen. Von November 1918 bis Februar 1919 fiel die Schule aus – „das war für uns natürlich ein Vergnügen.“
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So vertrieben sich die Jugendlichen unter anderem die Zeit damit, so oft wie möglich mit den ankommenden Truppen von Grünewald bis Erndtebrück zu reiten. „Auf der schwarzen Struth war ein Abstellplatz für Wagen, Geschütze, Geräte, alles mögliche. Die waren teilweise schon versumpft. Da trieb sich die Jugend dann auch herum und hat nach allem möglichen, das noch aufzufinden war, gesucht.“
So machten sie sich auch nützlich: „In den Sanitätswagen suchten wir für den hiesigen Doktor Verbandsmaterial, das wir ihm dann zur Verfügung stellten. Auch so Dinge wie Operationsbestecke fanden wir dort.“ Aber, und auch das gehörte zu, Krieg: Die Jugendlichen spielten auch mit Dynamit und Munition. „Es war erschütternd mit anzusehen.“ Ob dabei etwas passiert ist, berichtet Friedrich auf der Tonspur nicht im Detail. Stattdessen erzählt er von vielen rauchenden Jugendlichen, denn Zigaretten gab es viele in den Verpflegungswagen – und mit einem Apfel konnten sich die Jugendlichen bei den Truppen einfach ein paar Zigaretten oder Gebäck eintauschen. „Es war ein Tohuwabohu. Und das dauerte so an bis in den Februar 1919.“