Siegen. Die Bezirksschülervertretung stemmt die einzige Podiumsdiskussion, bei der das ganze Spektrum abgedeckt ist. Es geht hoch her am Siegener Löhrtor.

Der „Jugend-Demokratie-Gipfel“ stand schon im Kalender der Bezirksschülervertretung, als die Bundesregierung zerbrach. „Das nutzen wir jetzt“, erinnert sich Silas Andrick an die Überlegung im Team der Bezirksschülervertretung Anfang November, gleich auch noch die Direktkandidaten zur nun auf einmal anberaumten Neuwahl des Bundestages einzuladen. „Wir als Schüler sind ja spontan“, sagt der Bezirksschülersprecher, „und es hat funktioniert.“

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Tatsächlich: Um die 200 Schülerinnen und Schüler der weiterführenden Schulen Siegen-Wittgensteins strömen kurz nach Mittag in der Aula des Gymnasiums Am Löhrtor zusammen, einige haben am Vormittag schon an einem der drei Workshops teilgenommen, zu denen unter anderem NRW-Verfassungsschutz und die kirchlich getragene „Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus“ Referenten stellten. Womöglich bringen sie jetzt einiges an Wissen mit, das sie gleich bei den Politikern anwenden.

„Die waren so gut, da musste man gar nicht viel machen.“

Tobias Beitzel, Poetryslammer, über das Moderatorenduo

Silas Andrick und Franziska Kollmann, die die Diskussion moderieren werden, briefen ihre Gäste: keine Phrasen, keine Leugnung von Fakten, keine Hetze, keine Diskriminierung. Und: Redezeit-Disziplin. Eine Minute 30 pro Wortbeitrag. Später werden es nur noch 45 Sekunden. Trotzdem werden nicht alle drankommen, die Fragen haben. Bald ist richtig was los in der alten Stadtbühne. In der Ecke steht Tobias Beitzel und drückt die Daumen. Silas und Franziska haben ihn als Coach zur Vorbereitung dazugeholt. „Die waren so gut, da musste man gar nicht viel machen“, verrät der Poetryslammer.

Demokratie-Gipfel der Bezikrsschükervertretung Siegen-Wittgenstein
Bezirksschülersprecher Silas Andrick begrüßt die Bundestagskandidatinnen und -kandidaten. © WP | Steffen Schwab

Erste Halbzeit

Das Podium ist besetzt. Wenn man die Kandidierenden nach ihrer politischen Ausrichtung platziert, ergibt sich eine ganz und gar nicht gemischte Reihe: links von der Moderation drei Frauen, Katrin Fey (Linke), Luiza Licina-Bode (SPD), Laura Kraft (Grüne), die sich gegenseitig die Bälle zuzuspielen scheinen. Und rechts, mehr oder weniger im (Wahl-)Kampfmodus, Guido Müller (FDP), Benedikt Büdenbender (CDU) und Christian Zaum (AfD). „Ich werde wahrscheinlich in den nächsten Bundestag einziehen“, stellt sich der 55-jährige Studiendirektor mit AfD-Parteibuch aus Bad Laasphe vor. Sein Listenplatz ist sicher, während der Wahlkreisgewinner abwarten muss, wie seine Partei insgesamt abschneidet.

Bei der Schnellfragerunde wird mit hochzuhaltenden blauen und gelben Kärtchen geantwortet, die Abstimmungsalternativen sind auf der Leinwand aufgeblendet. Da geht schon einmal etwas schief bei solchem Tempo. Die Politikerinnen und Politiker beherrschen ihr Metier – maximale Zustimmung wird erzielt, wenn man beide Meinungen gleichzeitig vertritt. Beim Kiffen ist das Bild eindeutig: Die drei Frauen (links) sind für, die drei Männer (rechts) gegen die Legalisierung.

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Schon in der Vorstellungsrunde grätscht Silas Andrick mit dem ersten Faktencheck dazwischen, als AfD-Mann Zaum behauptet, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sei seit 2018 um 20 Prozent zurückgegangen. „Woher haben Sie die Zahl?“ Guido Müller (FDP) weiß es: Das war der Gewinnrückgang in der Autoindustrie. Das BIP ist seit 2013 um 1,3 Prozent gestiegen. Es wird nicht das letzte Mal sein, dass das Moderatoren-Duo in Windeseile ins Netz geht, um Fehler zu korrigieren. Bei Luiza Licina-Bode ist noch nicht einmal das nötig. Als Franziska Kollmann fragt, wie denn die versprochenen höheren Renten finanziert werden sollen, spricht die Sozialdemokratin über Steuern. Silas Andrick erklärt in seinem Einwurf, dass Renten von den Beiträgen der jeweils aktiven Beschäftigen bezahlt werden.

Das weiß Christian Zaum auch: „In 20 Jahren können wir wieder ganz viele Beitragszahler haben.“ Ob er den Menschen vorschreiben wolle, wie viele Kinder sie haben wollen, fragt Franziska Kollmann. Zaum antwortet mit „familienfreundlicher Politik“. Doch die Diskussion hat längst Fahrt aufgenommen. „Völkischer Quatsch“, schimpft Katrin Fey, „es sollten nur die Kinder kriegen, die sie auch wollen.“ Jubel im Saal, oben geht es weiter. Bekommt in Frankreich jede Frau zwei bis drei Kinder? Oder doch nur 1,79?

Demokratie-Gipfel der Bezikrsschükervertretung Siegen-Wittgenstein
Auch technisch ist der Demokratie-Gipfel auf hohem Niveau organisiert. © WP | Steffen Schwab

Jetzt geht es um Migration. Luiza Licina-Bode fängt mit Aschaffenburg an, ganz schnell ist man bei der Brandmauer und der AfD. Das Grundgesetz jedenfalls verbiete Koalitionen mit der AfD nicht, sagt Christian Zaum, „wir vertreten Millionen Wähler – mal sehen, wer von Ihnen noch im nächsten Bundestag ist.“ Pause. Tobias Beitzel kommt an die Bühne, gratuliert den Moderatoren. Der Bezirksschülervertretung ist ein Coup gelungen: Bei der Podiumsdiskussion der Kreuztaler Kolpingsfamilie durfte die AfD nicht ins Haus, die Kreishandwerkerschaft wollte die Linke nicht. „Wir haben in unserem Vorstand kontrovers diskutiert“, sagt Silas Andrick, „die Grüne für eine Einladung haben dann aber doch überwogen.“ Unter 16- bis 24-Jährigen sei die AfD die Nummer 2 in den politischen Präferenzen. Die Inhalte der rechten Parteien erreichten junge Menschen über Social Media sowieso. „Hier dann wenigstens mit Einordnung.“

Zweite Halbzeit

Nach der Pause haben die Schülerinnen und Schüler das Wort. Die Redeliste wird digital geführt, das Mikro ist immer da, wo es gebraucht wird. Die erste Frage zielt auf den Wunsch nach einem „geschlechtsneutralen Marker im Pass“. „Es gibt mehr als zwei Geschlechter“, bestätigt Katrin Fey. „Hokuspokus“, sagt Christian Zaum. „Ein Problem, das in einer woken Welt existiert“, sagt Guido Müller, „das sind nicht Probleme, die auf euch zukommen.“ Luiza Licina-Bode verfehlt das Thema ganz, an dem sie sich nur vorbeischlängeln will: „Jeder soll lieben, wen er will.“ Die zwei Welten unten in der Aula und oben auf dem Podium sind doch ganz schön weit auseinander.

Demokratie-Gipfel der Bezikrsschükervertretung Siegen-Wittgenstein
Die zweite Hälfte der Debatte gehört den Schülerinnen und Schülern im Publikum. Nicht alle werden ihre Fragen los © WP | Steffen Schwab

Die Sache mit dem Kinderkriegenmüssen wirkt nach, es geht um Grenzkontrollen, Investitionen in die Schulen. Ein jüngerer Schüler will endlich wissen, warum die AfD sich nicht von Rechtsextremen distanziere. Der Lehrer, der Politiker werden will, wird persönlich, bescheinigt dem Jungen, einen „intelligenten Eindruck“ zu machen: „Warum musstest du dann die Frage vom Handy ablesen?“ Die Moderation greift ein, die Empörung wird lautstark. Angemessen reagiert eine junge Frau, die sich nach Zaums eigener Familiengröße erkundigt und dabei von einem verstorbenen vierten Kind erfährt: „Das tut mir leid.“

Schule ist pünktlich. Der Jugend-Demokratie-Gipfel endet mit dem Pausengong. Beim Rausgehen werden Selfies gemacht. Draußen liegen Bescheinigungen für die Schule. Dass man auch wirklich dagewesen ist.

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