Siegen. Gegner drückt ihm irgendwann Halsschlagader zu, bis er die Augen verdreht. Dann eskaliert der Streit am Bahnübergang Siegen-Weidenau erst richtig.
Fünfeinhalb Jahre Haft: Wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung hat das Siegener Landgericht den 22-jährigen am Montag, 16. Dezember, schuldig gesprochen. Die 1. Große Strafkammer sah es als erwiesen an, dass der junge Mann am 18. Juni wusste und in Kauf nahm, dass er sein Opfer mit einem Messer töten könnte, gegen den er kurz zuvor mehrere körperliche Auseinandersetzungen verloren hatte.
+++Mehr Nachrichten aus Siegen und dem Siegerland finden Sie hier!+++
Wie berichtet war dem beinahe tödlichen Vorfall an diesem Dienstag ein Streit am Bahnübergang in Weidenau zwischen dem nunmehr Verurteilten und seinem Kontrahenten vorausgegangen, den mehrere Zeugen beobachteten und in den sie teils auch involviert waren. Das spätere Opfer habe sich zuvor abfällig über die Mutter des Beschuldigten geäußert, der Streit schaukelte sich schnell hoch, der Angeklagte gab dem anderen eine Kopfnuss trat auf ihn ein. Der brachte ihn zu Boden, setzte sich auf ihn und ließ ihn wieder los, im Glauben, dass der sich beruhigt habe. Dem war aber nicht so: Kaum war er aufgestanden, habe ihm der heute 22-Jährige die Beine weggezogen, der Kampf begann von neuem.
Urteil am Landgericht Siegen: Angeklagter nahm in Kauf, dass der andere Mann stirbt
Wieder unterlag er, wieder lag er am Boden - der andere drückte ihm demnach die Halsschlagader ab, bis sich die Augen verdrehte, so die Vorsitzende Richterin am Dienstag. Zeugen hätten den Mann vom Angeklagten heruntergezogen. Der ging weg, um sich zu beruhigen. Auch der Beschuldigte war wütend, wohl weil er schon wieder unterlegen war. Er stand auf, schüttete seinen Rucksack aus, nahm ein Taschenmesser-Werkzeug und lief hinter seinem Gegner her, der ihm den Rücken zugewandt hatte. Die umstehenden warnten den anderen noch; er drehte sich um als der Angreifer nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war. Der Angeklagte schlang die Arme um den anderen Mann und stach wuchtig mit der Messerklinge mehrmals in Rücken und Seite. „Dabei nahm er in Kauf, dass er stirbt“, so Richterin Elfriede Dreisbach bei der Urteilsverkündung. Ein potenziell tödlicher Stich prallte von einer Rippe ab - nur durch Glück sei nichts Schlimmeres passiert. Das alles ereignete sich binnen Sekunden.
Das Opfer rang den Täter ein weiteres Mal zu Boden, entwandt ihm das Messer. Zeugen „bewachten“ den Angreifer, der nun endlich aufgab, seine Sachen zurück in den Rucksack packte und wegging. Wenig später wurde er in der Poststraße aufgegriffen. Der Verletzte rief nach einem Krankenwagen: „Ich verblute“.
Zur Tatzeit auf Alkohol und Cannabis: Das hielt Siegener nicht davon ab, immer wieder anzugreifen
Zur Tatzeit hatte der Beschuldigte mindestens 1,36 Promille Alkohol im Blut, auch Cannabiskonsum wurde nachgewiesen. Seine Schuld mindert das nach Ansicht der Kammer nicht: Zwar habe er die Tat gestanden, sich bei seinem Opfer entschuldigt, was dieser auch angenommen habe. Anhand der Zeugenaussagen und von Videos habe sich die Kammer ein klares Bild vom Geschehen machen können. Aber der junge Mann habe mit Tötungsvorsatz gehandelt, als ihm der andere den Rücken zuwandte in der Annahme, dass der Streit diesmal vorbei sein könnte. Das Mordmerkmal der Heimtücke sah das Gericht hingegen nicht: Dazu müsse das Opfer arglos sein, was es nach den vorigen heftigen Streitereien nicht mehr war - zumal der Angeklagte mehrmals wieder auf ihn losgegangen war. „Beide waren unheimlich wütend.“
Alkohol und Cannabis sei der nunmehr Verurteilte gewohnt, zumal in solch vergleichsweise „niedriger“ Konzentration. Da der 22-Jährige nicht aufgab und mehrfach wieder angriff, sei er kaum eingeschränkt gewesen. Trotz Geständnis, Reue und der Tatsache, dass das Opfer noch lebt, komme hier kein minder schwerer Fall in Betracht: Der junge Mann ist einschlägig vorbestraft, dazu komme die Tateinheit mit schwerer Körperverletzung und dass alles viel schlimmer hätte enden können. „Er hat angefangen, den Streit provoziert und keine Ruhe gegeben.“
Mit 20 zog er in Siegener Obdachlosenunterkunft Hotel Acon und lebte in den Tag hinein
Der Angeklagte sei in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen: Bis zum 8. Lebensjahr bei seiner Mutter, so weit noch alles in Ordnung, er sei zur Schule gegangen, habe zu Essen bekommen, zeichnet die Richterin nach. Dann habe er bei seiner Tante gelebt, die zwei eigene Kinder hatte, mit denen er nicht klargekommen sei, es habe Streit und Schlägereien gegeben. Mit 14 zog er aus, landete in einer Wohngruppe, habe „falsche Freunde“ gefunden, mit Alkohol und Drogen angefangen, „um dazuzugehören“. Er beging erste Straftaten, wechselte mehrfach die Wohngruppe, sein Verhalten änderte sich indes nicht. Auch in der Förderschule gab es demnach Streit. Eine Ausbildung hat der 22-Jährige nicht, eine Entzugstherapie mit 18 scheiterte, als er in Streit mit Mitpatienten geriet. Er zog zurück zur Mutter, mit 20 ins inzwischen geschlossene Hotel Acon, eine Obdachlosenunterkunft.
+++ Immer auf dem Laufenden mit WhatsApp: Hier geht‘s zum Kanal der Lokalredaktion Siegen +++
Seither lebte er wohl in den Tag hinein. In der Haft mache er sich recht gut. Gegen das Urteil kann er Revision einlegen.