Siegen. Im„Willy-wählen“-Wahlkampf 1972 haben auf einmal ganz viele Berliner Zweitwohnsitze – vor allem in den Häusern von Siegerländer SPD-Politikern.

Es muss ziemlich eng zugegangen sein in den Wohnungen der Siegener SPD-Politiker: Beim Vorsitzenden der SPD-Ratsfraktion ist dessen Amtskollege aus Berlin-Spandau samt Familie eingezogen, beim Oberbürgermeister ein Abgeordneter und Gattin aus Berlin, bei der Witwe seines Amtsvorgängers gleich zwei ganze Familien aus Spandau. Das ARD-Politik-Magazin hält genau nach, wer sich bei wem angemeldet hat. Die Reporter kommen auf um die 100 Wahl-Siegener aus Berlin. Die Zahlen werden später auseinandergehen. Übereinstimmend festgestellt wird aber, dass die neuen Untermieter allesamt, wie ihre Vermieter, ein SPD-Parteibuch haben, darunter die komplette 26-köpfige SPD-Fraktion der Bezirksverordnetenversammlung Spandau. „Scheinwohnsitze“, lautete der Vorwurf. Eine Anfrage aus der Bevölkerung hat Kreisarchivar Thomas Wolf dazu gebracht, diese Begebenheit aus einer anderen Welt zu recherchieren.

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Wie Siegen in die Schlagzeilen kommt

Es war Bundestagswahlkampf: Bundeskanzler Willy Brandt hatte im September 1972 die Vertrauensfrage gestellt, nachdem seine Koalition von SPD und FDP die Mehrheit verloren hatte. Vier Abgeordnete waren zur CDU gewechselt, die trotzdem mit einem konstruktiven Misstrauensvotum gescheitert war – die Stasi hatte zwei CDU/CSU-Abgeordnete gekauft. Womit wir beim deutsch-deutschen Thema wären. Um den bundesweit Aufsehen erregenden Skandal zu verstehen, den die West-Berliner (damals war Berlin geteilt) in Siegen ausgelöst haben, muss man wissen: West-Berliner duften in Berlin nicht den Bundestag mitwählen; ihre Abgeordneten wurden vom dortigen Abgeordnetenhaus delegiert, hatten aber im Bundestag in Bonn kein Stimmrecht. Zum Ausgleich gab es eine Ausnahme in der Bundeswahlordnung: West-Berliner, die einen Zweitwohnsitz im Bundesgebiet hatten, durften dort den Bundestag mitwählen.

Bundeskanzler Willy Brandt stellt am 20. September 1972 vor dem Bonner Bundestag die Vertrauensfrage.
Bundeskanzler Willy Brandt stellt am 20. September 1972 vor dem Bonner Bundestag die Vertrauensfrage. © dpa | dpa

Sechs Tage vor der Bundestagswahl am 19. November 1972 machte „Report“ das öffentlich, was als „Wahlfälschung größten Ausmaßes“ Schlagzeilen machte und zu weitergehenden Befürchtungen Anlass gab: Die DDR, die darauf beharrte, dass West-Berlin nicht zur Bundesrepublik gehört, könnte Ärger machen – nach Berlin kam man damals halt nur über die Transitstrecken oder mit dem Interzonenzug durch die DDR oder mit dem Flugzeug. 35 Einsprüche gegen die Gültigkeit der Bundestagswahl waren schließlich zu verhandeln, in der 35. und letzten Sitzung befasste sich der Bundestagsausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung mit dem Siegener Fall.

Wie der Siegener Oberstadtdirektor sich mit dem Innenminister anlegt

Bereits am 14. November 1972, fünf Tage vor der Wahl, fordert der Landeswahlleiter die Verwaltungschefs der Städte und Kreise auf, Ermittlungen aufzunehmen, wenn Anzeichen für Scheinwohnsitze vorlägen. Ins Visier geriet der Siegener Stadtdirektor Kurt Seibt mit einer Äußerung im WDR-Fernsehen. Dessen Äußerung, so ein Vermerk aus dem NRW-Innenministerium , sei „rechtlich unhaltbar“. Voraussetzung für eine ordnungsgemäße Anmeldung sei, dass man die Wohnung auch beziehe. Umgekehrt: Wer einen Wohnsitz anmelde, dort aber gar nicht wohne, müsse wegen einer Ordnungswidrigkeit verfolgt werden. Der Innenminister, so der Rat seines Referenten, solle sich „das Verhalten des Herrn Seibt nicht bieten lassen“.

Seibt gibt zu Protokoll, „dass in seinem Bereich keine Berliner Bürger nur angeblich zugereist seien“. Was eigentlich unter „Aufenthalt“ zu verstehen sei, sei „nicht genau zu fixieren“, die Begründung eines Wohnsitzes liege „im subjektiven Bereich“. Der Oberstadtdirektor wurde dann doch noch verständlich: Es bleibe dem „Wohnungsnehmer“ überlassen, „wann und in welchem Umfang er die Nebenwohnung in Anspruch nehme“. Die Überprüfung sei schwierig und „untunlich“.

Damals

Um die Geschichte zu verstehen, sollte man noch wissen: Chefs in den Rathäusern waren damals nicht die Bürgermeister, sondern die Gemeinde- und (Ober-)Stadtdirektoren, im Kreishaus nicht der Landrat, sondern der Oberkreisdirektor

Den Kreis Siegen-Wittgenstein gab es 1972 noch nicht, wohl aber einen gemeinsamen Wahlkreis, für den der Siegener Oberkreisdirektor Kreiswahlleiter war.

Die Stadt Hüttental wurde 1966 aus den Gemeinden Weidenau, Geisweid, Dillnhütten., Birlenbach, Langenholdinghausen, Nieder- und Obersetzen, Sohlbach und Buchen, seit 1969 auch Meiswinkel gebildet. Sie wurde 1975 nach Siegen eingemeindet.

Oberkreisdirektor Karlheinz Forster hält sich zunächst heraus, bittet den Siegener Kollegen, „in eigener Zuständigkeit zu entscheiden“. Stellung nehmen muss Forster dann aber doch, nachdem der Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl in der Welt ist. Von den Städten und Gemeinden im Kreisgebiet lässt er sich den Überblick geben: 250 Berliner hatten einen Nebenwohnsitz in Siegen. Von ihnen nahmen 191 an der Bundestagswahl teil. Sieben kamen ins Wahllokal, die anderen wählten per Briefwahl. Die Staatsanwaltschaft Siegen nahm Ermittlungen gegen 155 Siegerländer und 275 West-Berliner auf. Der Vorwurf: „Versuchte oder vollendete Wahlfälschung und Wahlunterlagenfälschung.“

Landrat Hermann Schmidt
Landrat Hermann Schmidt (links, hier bei einer Veranstaltung mit Hans-Dietrich Genscher)  brauchte die Berliner Stimmen gar nicht. Er gewann den Wahlkreis mit haushohem Vorsprung. © Kreis Siegen-Wittgenstein | Kreis Siegen-Wittgenstein

Was der Staatsanwalt berichtet

Auf dieses schriftliche Vorverfahren folgt am 5. November 1973 die öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Wahlprüfungsausschuss des Bundestages.

Der Vertreter des Bundeswahlleiters führt Berechnungen vor: ob und wie sich das Wahlergebnis verändert hätte, wenn die Berliner Stimmen nicht abgegeben worden wären, je nach dem, ob man annimmt, dass sie SPD, CDU oder FDP gewählt hätten. Das Ergebnis: An der Sitzverteilung im Bundestag würde sich nichts ändern, der Siegener SPD-Abgeordnete Hermann Schmidt würde sein Mandat, das er mit 26.327 Stimmen Vorsprung direkt gewonnen hatte, behalten.

Der Siegener Staatsanwalt Hans Schicha berichtet, dass aktuell gegen 157 West-Berliner in Siegen, sechs in der Stadt Hüttental, drei in der Gemeinde Burbach, 46 in Kreuztal und 30 in Laasphe ermittelt werde. In Siegen hätten acht „,möglicherweise einen echten Wohnsitz“, in Hüttental und Kreuztal je einer. Die Bad Laaspher und 45 der 46 Kreuztaler seien vor der Wahl aus dem Wählerverzeichnis gestrichen worden, ebenso 33 West-Berliner in Eiserfeld. „In großem Umfange“ hätten sich die West-Berliner gesammelt angemeldet, ihre Briefwahlanträge seien „teilweise völlig übereinstimmend“.

Auch Oberkreisdirektor Karlheinz Forster (1931-2022) musste in Bonn antreten.
Auch Oberkreisdirektor Karlheinz Forster (1931-2022) musste in Bonn antreten. © WP | Lück Friedrich

Oberkreisdirektor Karlheinz Forster präzisiert als Zeuge, dass seine damalige „Bitte“ an den Siegener Oberstadtdirektor „selbstverständlich als freundliche Umschreibung einer Weisung zu verstehen“ sei. Oberstadtdirektor Kurt Seibt berichtet, dass Mitarbeiter der Verwaltung Kontakt zu den Berlinern in Siegen aufgenommen hätten. Manche seien nicht da gewesen, von anderen sei gesagt worden, sie kämen noch. Am 17. und 18. November hätten sich in Siegen anwesende West-Berliner ausdrücklich erkundigt, ob sie noch im Wählerverzeichnis stehen. Seibt wiederholt seine Auffassung, bei der Anmeldung eines Zweitwohnsitzes sei „die Dauer des Wohnens ebenso unbeachtlich wie das Motiv, das den Anmeldenden zur Wohnungsnahme veranlasst habe“. Zwar müsse sich niemand anmelden, der sich nicht länger als acht Wochen an einem Ort aufhalte. „Es sei aber auch nirgends gesagt“, so gibt das Protokoll den Siegener Oberstadtdirektor wieder, „dass der Betreffende, der sich auch nur kurz dort aufhalte, nicht berechtigt sei, sich anzumelden“.

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Der Landeswahlleiter von NRW begründet, warum er selbst die Bundestagswahl nicht angefochten habe: „Bis auf den Bereich Siegen“ hätten alle Gemeindedirektoren „im Wege der Bereinigung“ alles wieder ins Lot der Bundeswahlordnung gebracht. Auch er widerspricht der Rechtsauffassung des Siegener Oberstadtdirektors: „Eine mehr oder wenige vage Aussicht, es werde einmal eine Wohnung bezogen, es werde irgendwann einmal jemand kommen, reiche nicht als Grundlage für eine Eintragung in das Wählerverzeichnis oder für Erteilung eines Wahlscheines aus.“ Am Ende der Verhandlung dankt der Siegener, der den Einspruch eingelegt hat: Es sei „das Ausmaß einer organisierten Wahlmanipulation deutlich geworden, wie sie bisher einmalig in der Geschichte der Wahlen zum Deutschen Bundestag sein dürfte“.

Wie der Wahlprüfungsausschuss entscheidet

Die Entscheidung überrascht nicht: Die West-Berliner mit ihren Scheinwohnsitzen in Siegen hätten zwar tatsächlich nicht wählen dürfen. Die 155 zu Unrecht abgegebenen Stimmen hätten aber am Ergebnis nichts geändert: SPD-Bundestagsabgeordneter Hermann Schmidt hatte schließlich einen Vorsprung bei 26.327 Stimmen. Und damit sich über die Zweitstimmen etwas an der Sitzverteilung im Bundestag ändert, hätte die FDP 81.576 Zweitstimmen verlieren müssen (dann ginge einer ihrer Sitze an die SPD), die SPD 34.792 Zweitstimmen (dann profitierte die FDP), die CDU 199 (Nutznießer: ebenfalls die FDP). Wobei Letzteres die unwahrscheinlichste Variante wäre, wie der Ausschuss betont: Nach der Beweisaufnahme könne keinesfalls davon ausgegangen werden, dass die 155 Stimmen auf dei CDU entfallen sind.

Nach dem „Willy-wählen“-Wahlkampf wurde Willy Brandt wieder Bundeskanzler. Es bedurfte eines Spions aus der DDR, um ihn zwei Jahre später zu stürzen.

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