Kreuztal. Der Einrichtung zum Kurzzeitwohnen für Kinder mit Behinderung reichen die Spendengelder nicht mehr aus. Eltern fühlen sich im Stich gelassen.
Wachsen Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung auf, bedeutet das für die Angehörigen oft, dass sie sich rund um die Uhr um sie kümmern müssen. Bei einer starken Ausprägung der Behinderung können sie physisch und psychisch an ihre Grenzen kommen. Möchten sie mal verreisen, tritt ein Notfall ein oder brauchen sie einfach nur mal eine Pause, kommen Einrichtungen für das Kurzzeitwohnen ins Spiel. Das Angebot in der Region ist bereits dünn, nun muss auch die Kindervilla Dorothee in Kreuztal ihre Türen schließen. Die Eltern fühlen sich im Stich gelassen.
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180.000 Euro Minus ausgerechnet: Spendengelder reichen für Kindervilla Dorothee nicht mehr aus
25 Jahre lang bietet die Kindervilla Dorothee an der Siegener Straße in Buschhütten Kindern mit Behinderung ein vorübergehendes Zuhause. Zum 1. Juli wird die Einrichtung endgültig dicht gemacht. Seit den Tarifverhandlungen im September 2022, bei denen die Gehälter der Angestellten an den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) angepasst worden sind und einer weiteren Erhöhung im März dieses Jahres, wird die Situation für die Kindervilla immer schwieriger. Die Hochrechnungen von Einrichtungsleiter Jürgen Müller belaufen sich auf ein Minus von 180.000 Euro. Anfang Juni die Entscheidung: „Dann haben wir gesagt, dass wir die Reißleine ziehen müssen.“
„Das ist eine Katastrophe. Wir finden das ganz furchtbar, ich kann das gar nicht in Worte fassen.“
Immer weniger Mitarbeiter kommen über ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ), Gehälter zusätzlicher Pflegekräfte können von der Kindervilla, die auf Spendengelder angewiesen ist, nicht gestemmt werden. Immer weniger Personal ist für die rund 120 Familien da, die regelmäßig das Kurzzeitwohnen in Anspruch nehmen. Jürgen Müller, der von Anfang an dabei ist, und allen anderen Mitgliedern ist der Schritt schwergefallen: „Das ist eine Katastrophe. Wir finden das ganz furchtbar, ich kann das gar nicht in Worte fassen.“ Der Einrichtungsleiter hat selbst vier Kinder. Nun ist er gezwungen, die Unterstützung für zahlreiche Familien, die es schwer haben, einzustellen. Auch für die Mitarbeiter fällt nun eine Art zweites Zuhause weg.
System fällt zusammen: Immer mehr Familien fühlen sich im Stich gelassen
In den vergangenen Tagen informierte Jürgen Müller die betroffenen Familien über die Schließung. Eine davon ist die von Regine Hose aus Olpe. Zwei Jahre nimmt ihre 16-jährige Tochter, die an einem seltenen Chromosomfehler leidet, regelmäßig die Betreuung in der Kurzzeitpflege der Kindervilla Dorothee in Anspruch. Die Kindervilla hat es ihr ermöglicht, mal Pausen vom schwierigen Alltag mit ihrer Tochter einzulegen und die Verantwortung vorübergehend jemandem zu überlassen, wenn es ihr mal zu viel wird. Diese Möglichkeit fällt jetzt weg. „Das ganze System scheint gerade zusammenzufallen. Es gibt personelle Engpässe und kein sinnvolles Finanzierungsmodell“, so Regine Hose.
Einen neuen Platz bei einer anderen Kurzzeitpflege im Umkreis zu bekommen, ist für die betroffenen Familien schwierig. Es handelt sich um ein strukturelles Problem, das sich vor allem seit der Pandemie verstärkt hat. Der Bedarf wird immer größer, gleichzeitig fallen immer mehr Angebote weg. Allein drei Einrichtungen des Dachverbandes der Kindervilla, becura, mussten kürzlich schließen. „Die Situation ist eine Katastrophe“, sagt becura-Vorsitzender Dr. Walther Witting. Die Kapazitäten von unzähligen Einrichtungen sind derzeit ausgeschöpft, frühestens im nächsten Jahr können viele von ihnen erst wieder aufnehmen. Auch das stationäre Wohnen, das für Kinder infrage kommt, sobald sie 18 sind, bleibt aufgrund der hohen Nachfrage meist aussichtslos.
„Eltern sind zu brav“: becura-Vorsitzender fordert mehr politischen Aufstand
Für die Schließung der Kindervilla macht die betroffene Mutter Regine Hose der Einrichtung in Buschhütten keinen Vorwurf, fühlt sich von den Pflegekassen jedoch im Stich gelassen. 1700 Euro im Jahr werden von diesen für die Kurzzeitbetreuung übernommen. „Der größte Witz ist, dass es jetzt keinen anderen Weg gibt, an diese Gelder heranzukommen. Man hat das Gefühl, dass an den Schwächsten gespart wird“, empört sich die 43-jährige Mutter. Denn das Budget fällt mit der Schließung nun weg. Viele Eltern stehen mit dem Rücken zur Wand. Viele müssen ihre gebuchten Urlaube absagen, wenn die Familie nicht gerade einspringen kann. Auch Ferienfreizeiten sind meist schon ausgelastet.
„Man hat das Gefühl, dass an den Schwächsten gespart wird.“
Die betroffenen Eltern machen laut Dr. Walther Witting politisch zu wenig Aufstand, seien am Ende ihrer Kräfte. „Die Eltern sind zu brav. Sie sind belastet und es nicht gewohnt, laut zu schreien.“ Laut dem becura-Vorsitzenden gelte es, mehr auf das Thema aufmerksam zu machen. „Wir müssen die Situation, die Not der Familien wahrnehmen. Große Träger ziehen sich zurück, es fallen zu wenig Blicke auf das Thema Kurzzeitwohnen“, so Witting. Die Eltern sind es gewohnt, hinten anzustehen. Damit sich was am Missstand der Kurzzeitbetreuung ändert, müssen sie in Zukunft aufstehen.
Auch Jürgen Müller vermisst die politische Motivation, finanzielle Mittel für das Kurzzeitwohnen bereitzustellen. Der Bedarf sei allemal da. Um die Familien aus der Region weiterhin so gut es geht zu unterstützen, bietet Müller Beratung für die Betroffenen an und vermittelt diese an alternative Einrichtungen. Was mit den Räumlichkeiten in Buschhütten in Zukunft passiert, ist aktuell noch unklar.
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