Siegen. Protest in der „Black Week“ in Siegen: Es fehlt drastisch Geld und Personal, Eltern verzweifeln, weil Betreuung gekürzt werden muss. Bildungsauftrag in Gefahr.

Krach machen ist genau ihr Ding. Becken, Rasseln und vor allem Trillerpfeifen: Der Lärm ist ohrenbetäubend. Die Kleinen haben Durchhaltevermögen - wenn man mit Lautstärke auf sich aufmerksam machen möchte, dann sind Kindergartenkinder genau die Richtigen. Immerhin geht es um ihre Zukunft: Dutzende Kinder, Eltern, Erzieherinnen und Erzieher haben am Mittwoch, 12. Juni, vor dem Rathaus in der Siegener Oberstadt zwei Stunden lang ein Signal gesendet, sich solidarisch gezeigt: „Gegen den Ausverkauf der sozialen Landschaft in NRW“.

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Mit diesem Slogan hat die Freie Wohlfahrtspflege NRW, Dachverband von Trägern wie unter anderem AWO, DRK, Caritas oder Diakonie, ihre Aktionswoche überschrieben: eine „Black Week“. Unter diesem Namen sind sonst die herbstlichen Dauerrabatt-Tage bekannt, die aus den USA nach Europa schwappten und aus dem Internet auch in die Geschäfte. Dabei geht es um Konsum, auch um den Ausverkauf. Waren werden zu Schleuderpreisen verramscht. Und genau diese Sorge haben die Wohlfahrts und Sozialverbände im Land, unter anderem mit Blick auf die Kinderbetreuung: Finanzielle Defizite und Personalmangel sind so groß, verstärken sich derart, dass - ein weiterer Slogan der Kampagne - bald die Lichter ausgehen. Die Kinder haben Wecker aus Holz gebastelt, die die Uhrzeit 12.05 anzeigen; auf Plakaten und Bannern prangt „NRW bleib sozial“.

Siegen: Kitas fehlt Geld und Personal - Kinderbetreuung für Familien immer schlimmer

Viola Schwarz leitet die evangelische Kita „Hinter dem Wäldchen“ in Bürbach. Der Kindergarten gehört zum EKiKS-Trägerverbund (Evangelische Kitas im Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein), mit 57 Einrichtungen der größte in der Region, aber eben nur in der Region. 13 Kitas davon machen mit, erzählt Viola Schwarz, während sie das Demo-Material aus dem Bulli lädt, Luftballons aufpustet. Aber nicht alle davon hätten es am Mittwochmorgen in die Oberstadt geschafft. Personalmangel, sie zuckt die Achseln. In Bürbach seien sie noch vergleichsweise gut aufgestellt, sagt sie. Trotzdem: So eine Kundgebung, das ist zusätzliche Arbeit. Als sie vor genau einer Woche von der Initiative erfuhren, entschieden sie aber sofort: Da machen wir mit. „Einer muss ja mal den Mut haben, den Schritt zu gehen“, findet die Einrichtungsleiterin. Aber die Organisation: „Das war sportlich.“

„Es ist einfach kurzsichtig, Kinder und Jugendliche so zu vernachlässigen.“

Viola Schwarz
Einrichtungsleiterin Ev. Kita Bürbach

In den Kindertageseinrichtungen gehe es - einerseits - vor allem um die Refinanzierung, erklärt Viola Schwarz, während immer mehr Kita-Gruppen vor der Nikolaikirche eintrudeln. Die Träger, vor allem kleinere, hätten nach Mittelkürzungen und unsicherer Finanzierung keine Möglichkeit mehr, Angebot aus eigener Tasche zu zahlen. In der Konsequenz drohten die Lichter eben buchstäblich auszugehen: Einige Einrichtungen könnten beispielsweise keine 45-Stunden-Betreuung pro Woche mehr anbieten. „Das ist sehr schwierig für die betroffenen Familien“, sagt sie, „sie brauchen dringend eine zuverlässige Betreuung.“ Gerade Alleinerziehende, die gar keine andere Chance hätten. Das andere große Thema: Fachkräftemangel. Den gibt es seit Jahren und der wird immer schlimmer. Große Träger mit entsprechenden Strukturen und Möglichkeiten könnten dem Personal Vergünstigungen und Zusatzangebote bieten, natürlich gehen Interessenten dann lieber dorthin. Die „Kleinen“ bluten aus. So viele Erzieherinnen und Erzieher würden unter Burnout leiden, hätten keine Kraft mehr; so viele Kitas im Land könnten nur noch Notgruppen von 9 bis 12 Uhr anbieten, was Eltern zum Verzweifeln bringt. „Eine immense Belastung für alle.“

Viola Schwarz, Leiterin der Ev. Kita in Bürbach, hat die Protestaktion in der Siegener Oberstadt mit ihrem Team organisiert.
Viola Schwarz, Leiterin der Ev. Kita in Bürbach, hat die Protestaktion in der Siegener Oberstadt mit ihrem Team organisiert. © WP | Hendrik Schulz

Viola Schwarz, ihre Kolleginnen und Kollegen, Eltern und Großeltern, die am Mittwoch in die Oberstadt gekommen sind, können das einfach nicht nachvollziehen. „Es ist unsere Aufgabe, Kinder auf eine gute Basis zu stellen, nicht nur zu betreuen. Wir haben einen Bildungsauftrag: Wir möchten sie selbstbewusst machen, dass sie auf beiden Beinen stehen, auch Position beziehen, über ihr Handeln nachdenken.“ Das schaffen sie viel zu oft nicht in dem Maße, wie sie das gern würden. „Kinder haben überhaupt keinen Stellenwert“. Dabei würde doch das Land, die Gesellschaft davon profitieren, wenn Bildung alleroberste Priorität hätte. „Es ist einfach kurzsichtig, Kinder und Jugendliche so zu vernachlässigen“, sagt die Pädagogin.

„Black Week“: Kita-Protest nicht gegen Stadt Siegen - „Bürgermeister ist auf unserer Seite“

Der Protest richte sich nicht gegen die Stadt, betont Viola Schwarz, sondern ans Land, wo das Geld verteilt wird. Sie wollen deutlich machen: Die Siegener Kitas halten nicht die Klappe, sondern machen Lärm. Ohne Reden oder Wortbeiträge, einfach nur ein Signal Richtung Düsseldorf aus der Siegener Oberstadt. Sie verteilen Flyer mit QR-Codes, über die Passanten direkt zur Online-Unterschriften-Aktion der Freien Wohlfahrtspflege NRW gelangen (Externer Link). Im und am Rathaus ist immer was los und außerdem ist mittwochs Markt. In zwei Stunden bekommen so viele Leute den Protest der vielen Kleinen mit.

Die Kitas des EKiKS-Trägerverbund (Evangelische Kitas im Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein) beteiligen sich an der Protest-Woche der Freien Wohlfahrtspflege NRW.
Die Kitas des EKiKS-Trägerverbund (Evangelische Kitas im Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein) beteiligen sich an der Protest-Woche der Freien Wohlfahrtspflege NRW. © WP | Hendrik Schulz

„Der Bürgermeister muss mal wach werden in seinem Büro.“

Die kleine Jana
auf die Frage, warum sie hier heute Lärm machen

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Warum sie so viel Lärm machen? Darüber haben sie natürlich vorher in den Einrichtungen gesprochen, aber Kinder erklären sich die Welt eben nach ihren eigenen Regeln. Weil sie lauter als die großen Kirchenglocken sein wollen, sagt Mats (Namen geändert); weil sie Geld kriegen wollen - für Strom, erklärt Ida wie aus der Pistole geschossen. Da hätten sie nämlich nicht genug. Die evangelische Kita aus Bürbach ist öfter zu Besuch am Rathaus, am Weltkindertag zum Beispiel besuchen sie regelmäßig Bürgermeister Steffen Mues und erinnern ihn daran, die Kinder nicht zu vergessen. „Der Bürgermeister ist auf unserer Seite“, sagt Viola Schwarz: Gegen die Stadt richtet sich der Protest nicht. Die will ja das gleiche. Die kleine Jana sagt auf die Frage, warum sie heute hier so viel Lärm machen: „Der Bürgermeister muss mal wach werden in seinem Büro.“

Viele Kinder mit dem Auftrag, viel Krach zu machen, machen auch viel Krach - erst recht, wenn sie Trillerpfeifen bekommen.
Viele Kinder mit dem Auftrag, viel Krach zu machen, machen auch viel Krach - erst recht, wenn sie Trillerpfeifen bekommen. © WP | Hendrik Schulz