Meschede. Putin hat die Ukraine angegriffen. In Meschede ist Professor Ewald Mittelstädt besorgt. Die FH hält eine Partnerschaft zu Uni in Charkiw.
Die Situation in der Ukraine besorgt auch die Menschen in der Region, weil sie persönliche Kontakte haben, es wirtschaftliche Verflechtungen gibt oder sie befürchten, dass die Energie knapp und teuer wird. Professor Ewald Mittelstädt hat enge Kontakte ins Land. Der Dozent der FH Südwestfalen in Meschede hat eine Hochschulpartnerschaft zur ukrainischen Stadt Charkiw aufgebaut. Er organisiert regelmäßig Exkursionen in die Ukraine und hat an der dortigen Universität eine Ehrendoktorwürde. Mittelstädt leitet das Fachgebiet Entrepreneurship im Fachbereich Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften an der FH Südwestfalen.
Von Charkiw aus ist man in einer halben Stunde in Russland, im Süden grenzt der Bezirk auch an die umkämpften Bezirke Donezk und Luhansk. Wie erleben die Menschen die Eskalation?
Professor Ewald Mittelstädt: Das ist alles sehr bedrückend und eine große Bedrohung. Ich habe den Eindruck, dass vor allem die Jüngeren versuchen, die Gefahr eher zu verdrängen. Bei den Kollegen spüre ich die Ängste und Belastungen. In vielen Familien geht der Riss schon seit den Unruhen 2014 und dann mit der Annexion der Krim quer durch die Familien. Da wohnt die Schwester in Charkiw, der Bruder in Moskau - und man spricht nicht mehr miteinander.
Fühlen sich die Menschen in Charkiw eher ukrainisch oder russisch?
In der Abstimmung zur ukrainischen Unabhängigkeit 1991 haben sich 92 Prozent der Menschen in der Ukraine für eine Trennung von Russland ausgesprochen. Klar, es wird russisch gesprochen, aber die Menschen, die ich treffe, lassen keinen Zweifel daran, dass sie sich als ukrainische Staatsbürger sehen.
Wie real ist die aktuelle Gefahr für die Menschen?
Sehr real. 15.000 Ukrainer sind bereits in den Kämpfen mit Russland ums Leben gekommen. Die Studierenden leisten meist einen studienbegleitenden Wehrdienst. Einige waren schon in den umkämpften Gebieten, ob eingezogen oder freiwillig, und in den Hochschulen hängen Tafeln mit Bildern, auf denen die Gefallenen der Hochschule aufgelistet sind.
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Welche Folgen hat die aktuelle Entwicklung für Ihre Hochschulpartnerschaft?
Im März kommen zwei Austausch-Studentinnen. Im Mai steht ein Besuch einer Delegation in Meschede an. Und im August planen wir eine Exkursion in die Ukraine. Da muss man jetzt sehen, ob das alles so stattfinden kann. Aber ich finde es wichtig, dass wir den Kontakt halten und loyal sind. Die Ukrainer in der jetzigen Situation auch noch allein zu lassen, kann nicht die Lösung sein.
Das Land hat große wirtschaftliche Probleme, es gibt Korruption und Oligarchen wie in Russland.
Ja, aber es ist trotzdem anders als Russland eine Demokratie und es gibt von der EU unterstützte Anti-Korruptionsinitiativen. Russland hingegen hat das Oligarchentum quasi zur Staatsform erhoben. Die wirtschaftliche Situation in der Ukraine hat auch viel damit zu tun, dass das Land über Jahrzehnte in russischen Wirtschaftsströme eingebunden war. Mit dem Bruch nach den Maidan-Unruhen hat Russland diese gekappt. Deutschland unterstützt die Transformation, aber die Ukraine muss sich aus eigener Kraft wirtschaftlich hocharbeiten. Dass das offensichtlich gelingt, in einer liberalen Demokratie, in direkter Nachbarschaft - das muss Putin ein Dorn im Auge sein.
Welche Chancen sehen Sie, dass die Ukraine als souveräner Staat bestehen bleibt?
Ich würde es mir wünschen, aber ich fürchte das Drehbuch hat der russische Präsident bereits geschrieben. Er arbeitet jetzt nur noch die einzelnen Punkte ab.
Was wird die Ukraine tun?
Die Ukraine hat den Willen, sich zu wehren. Früher gab es übrigens auch Atomwaffen in der Ukraine – mit dem Ende des Kalten Krieges hat sie in einem Vertrag darauf verzichtet, gegen die Garantien von Russland, den USA und Großbritannien, dass das Staatsgebiet unversehrt bleibt. Wieder ein Punkt, in dem die russische Staatsführung offenkundig Wortbruch begangen hat. Ich hätte nie gedacht, dass wir im Jahr 2022 über einen Krieg mitten in Europa sprechen müssen.
Was sollte Deutschland tun?
Wir müssen jede Initiative ergreifen, damit die Waffen wieder schweigen. Realistisch betrachtet, müssen wir uns auf eine Flüchtlingswelle vorbereiten.
>>>HINTERGRUND
Charkiw ist die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Sie hat 1,4 Millionen Einwohnern und 42 Hochschulen mit 180.000 Studierenden.
Es gibt dort sehr viele IT-Betriebe. Die Stadt gilt als die verlängerte IT-Werkbank der Welt, viele amerikanische und auch deutsche Unternehmen haben dort Mitarbeiter.
Charkiw ist laut Professor Ewald Mittelstädt trotz der Nähe zu Russland sehr auf Europa ausgerichtet. Es gibt ein deutsches Zentrum und eine deutsche Bibliothek.
„Bei unseren Besuchen sehen die Studierenden und ich eine moderne europäische Großstadt, in der die jungen Leute gut ausgebildet sind, die gleichen Träume haben von der Zukunft und auch die gleiche Musik hören.“