Menden. Anna (25) leidet seit Jahren an starken Ängsten und Depressionen. Was der Mendenerin nach Klinikaufenthalten und Therapien Kraft gibt.
Die Angst kam früh in ihr Leben, das weiß sie im Rückblick. Damals war sie noch ein Kind. Und mit der Angst kam die Depression. Seither gehören beide zu ihrem Leben. Viele Therapiestunden und mehrere Klinikaufenthalte später weiß Anna (Nachname der Redaktion bekannt), dass sie ihre Ängste und ihre Depressionen vielleicht nie vollends loswerden wird. Tag für Tag arbeitet sie daran, dennoch positiv in die Zukunft zu blicken.
Angst vor einem süßen Hundewelpen
„Ich habe relativ viele Ängste“, stellt Anna fest. Die Angst vor – fast – allen Tieren gehört dabei zu den Phobien, die die 25-Jährige am wenigsten in ihrem Alltag einschränken. Als die Eltern ihres Freundes ihr einen Hundewelpen in den Arm legen wollten, wurde die Angst übermächtig. Am schlimmsten jedoch ist ihre soziale Phobie. „Was denken die anderen über mich?“ ist dabei eine Frage, die sie häufig umtreibt. Und zwar so sehr, dass es ihr bisweilen schier unmöglich erscheint, das Haus zu verlassen.
Einigeln und in der sicheren Wohnung bleiben, das wäre das leichteste. Doch Anna hat eine vierjährige Tochter. Und ihr zuliebe kämpft sie noch stärker gegen ihre Ängste, als sie das früher getan hätte. Sich mal eben auf dem Spielplatz neben eine andere Mutter auf eine Bank setzen und einen Plausch halten, das geht nicht. „Ich bin extra zur Platte Heide gezogen, weil hier viele Spielplätze sind“, sagt Anna. So kann sie sich auch einen Spielplatz suchen, auf dem ihre Tochter mit anderen Kindern spielen kann, sie selbst sich aber zurückziehen kann.
„Dann weiß ich, dass jetzt wieder eine Panikattacke kommt. Das ist dann zwischen Flucht und Kampf. Dann lasse ich alles stehen und gehe schnell raus.“
Manchmal vergisst Anna ihre Ängste
Manchmal vergisst Anna ihre Ängste: „Dann denke ich da einfach nicht mehr dran.“ Dann traut sie sich sogar alleine in den Supermarkt. Nicht immer schafft sie es mit den Einkäufen zur Kasse und dann nach Hause. Wenn das Herz immer schneller schlägt, der Kopf sich Horrorszenarien ausdenkt, sie nervös und zittrig wird, „dann weiß ich, dass jetzt wieder eine Panikattacke kommt. Das ist dann zwischen Flucht und Kampf“, sagt Anna. „Dann lasse ich alles stehen und gehe schnell raus.“ Wenn sie gemeinsam mit ihrem Freund einkaufen geht und dieser kurz in einer anderen Abteilung nach einem Lebensmittel schaue, „kann es sein, dass mich aufgrund meiner Traumata irgendwas triggert“, erklärt Anna. Und dann muss sie einfach nur raus aus der Situation.
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Woher ihre Ängste kommen? Anna vermutet, dass ganz vieles in ihrer Kindheit wurzelt. Dabei macht sie ihren Eltern keine Vorwürfe, stellt aber fest, dass diese zwar alles richtig machen wollten – und doch aus ihrer Warte manches besser hätten machen können: Ihr sei als Kind und Jugendliche wenig zugetraut worden, erinnert sich Anna. Die Spülmaschine ausräumen? „Nein, dir fällt bestimmt ein Teller runter.“ Ein Glas, das sie aus Versehen umkippt? „Das war ein Weltuntergang.“
Tiefe Spuren in der Seele
Erinnerungen an kleine Begebenheiten, die aber tiefe Spuren in der Seele hinterlassen haben. „Du kannst das nicht“ war die Einschätzung, die ihr immer vermittelt worden sei. Zudem habe ihr die emotionale Verbindung durch ihre Eltern, nach der sie sich so sehnte, gefehlt. „Dich wird nie jemand lieben, wenn du nicht perfekt bist“ sei ein dominantes Gefühl aus ihrer Kindheit und Jugend gewesen. „Ich habe Angst gehabt, dass ich auf der Straße lande und niemanden habe.“
Einzelgängerin in der Schule
In der Schule sei sie immer eher eine Einzelgängerin gewesen und schließlich gemobbt worden: „Ich war das Opfer.“ Suizidgedanken habe sie schon als Kind gehabt, diese aber nicht als solche einzuordnen gewusst.
„Ich hatte schon mit acht Jahren Depressionen.“
Als sie 14 Jahre alt war, rief ein Lehrer den Notarzt, „weil ich auf einem Schulfest, auf das ich nicht gehen wollte, suizidal war“, erinnert sich Anna. „Das war auch eine traumatische Erfahrung.“ Es folgte ein neunmonatiger Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dort sei im Rückblick festgestellt worden, „dass ich schon mit acht Jahren Depressionen hatte“, sagt Anna. Sie habe eigentlich sehr gerne im Chor gesungen, „aber ich hatte irgendwann einfach keine Kraft mehr zu singen“.
Nach ihrem Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie wechselte sie die Schule, ging nach Menden statt Iserlohn. Im Laufe der Jahre folgten mehrere einwöchige sogenannte Kriseninterventionen in Kliniken, darüber hinaus mehrere stationäre Aufenthalte, die einige Wochen bis hin zu mehreren Monaten dauerten.
Telefonseelsorge
Wenn Sie selbst unter Stimmungsschwankungen, Depressionen oder Suizidgedanken leiden oder jemanden kennen, der daran leidet, können Sie sich bei der Telefonseelsorge helfen lassen. Sie erreichen sie unter 0800 1110-111 und unter 0800 1110-222 oder im Internet unter telefonseelsorge.de
Als sie mit 20 schwanger wurde, hätten ihr ihre Eltern gesagt, dass sie das nicht könne – Muttersein, Verantwortung tragen. Doch auch dank ihrer Tochter tastet sich Anna Stück für Stück aus der Isolation. Ein Anruf beim Kindergarten, das ist kein Problem mehr. Ein Anruf beim Vermieter, weil in ihrer Wohnung etwas defekt ist – das ist eine größere Herausforderung für die junge Frau, als sie im Moment stemmen kann.
Stressige Situationen übt Anna mit ihrem Freund
Anna hofft darauf, dass sie bald einen Betreuer bekommt, der sie in solchen Dingen unterstützt: „Ich habe das beim ambulant betreuten Wohnen beantragt und bin da auf der Warteliste.“ Auch ihr Freund helfe ihr. Von ihrem Ehemann, dem Vater ihrer vierjährigen Tochter, habe sie sich vor einigen Monaten getrennt. Ihr Freund übt besonders stressige Situationen gemeinsam mit ihr.
Auch zu Alkohol und Tabletten hat Anna immer mal wieder gegriffen, um ihre Ängste und ihre Depressionen zu kompensieren, wie sie selbst sagt. Schneiden, ritzen, kratzen – Selbstverletzung ist bei ihr ebenso ein großes Thema. „Wenn ich nicht klar denken kann, dann hilft Adrenalin“, erzählt sie. „Durch das Schneiden kommt der Adrenalinstoß. Das ist für mich wie eine Art Sucht.“ Anna betont, dass es „für jeden individuelle Gründe gibt, die jedoch immer ernst genommen werden sollten - egal wie unverständlich diese für andere sein mögen“.
In ihren Therapien hat Anna gelernt, sich verschiedene so genannte Skills anzueignen, mit denen sie gegensteuern kann, wenn die Anspannung übermächtig wird: „Etwas extrem Scharfes essen, Eiswürfel in den Nacken legen, einen Stressball kneten, Musik hören, mir etwas Gutes tun oder einfach irgendeine Kinderserie angucken, die ich schon zig Mal gesehen habe“, zählt sie auf. „Das bringt mich wieder runter. Und momentan ist meine Hauptablenkung mein Kind.“
Anna will eine Arbeitsstelle suchen
Anna ist erst vor kurzem umgezogen. Ein Kraftakt für die 25-Jährige. Als nächstes möchte die gelernte Einzelhandelskauffrau sich eine Arbeitsstelle suchen: „Ich weiß, dass Arbeit mir guttut.“ Therapeuten hätten ihr öfter gesagt: „Mach‘ einfach“, erzählt sie. „Man muss versuchen, sich einmal zusammenzureißen, damit Körper und Geist merken, das ist gar nicht so schlimm.“
„Dann frage ich mich, ob sich irgendwas, das in einem Jahr ist, überhaupt noch lohnt. Ich habe generell ein pessimistisches Denken.“
Ihre Ängste haben Depressionen im Gepäck
Ihre Ängste haben auch die Depressionen im Gepäck. Für Anna gehört diese dunkle Wolke zu ihrem Leben dazu. An manchen Tagen ist sie nur ein bisschen grau – das sind die guten. An anderen Tagen wird sie tiefschwarz – das sind die schlimmen, an denen ihr einfach alles unendlich schwerfällt: „Dann frage ich mich, ob sich irgendwas, das in einem Jahr ist, überhaupt noch lohnt. Ich habe generell ein pessimistisches Denken.“
Die 25-Jährige hat sich mit dem Gedanken angefreundet, dass ihre Ängste und ihre Depressionen sie wohl begleiten werden. „Radikale Akzeptanz ist wichtig, das hilft mir“, sagt sie. „Ich habe Ängste, aber ich gehe raus und muss akzeptieren, dass eventuell eine Panikattacke kommen könnte. Das darf ich aber nicht als Entschuldigung nehmen und deshalb nicht rausgehen.“
„Die negativen Gedanken sind sowieso da. Ich versuche deshalb, mir immer die positiven Sachen in Erinnerung zu rufen.“
Mal alleine spazieren gehen, das hat Anna bei ihrem kürzlichen Aufenthalt in einer Klinik geübt. Es sind kleine Schritte, die Anna viel Kraft und Mut kosten, aber sie gehen in die richtige Richtung: „Die negativen Gedanken sind sowieso da. Ich versuche deshalb, mir immer die positiven Sachen in Erinnerung zu rufen.“