Wetter. Dieter Tarrach war fünf, als er mit Mutter und Brüdern flüchten musste. Beim Betrachten der Nachrichten heute muss er manchmal daran denken.

Russische Kampfflieger zielen auf Menschen auf der Flucht. Ein italienischer Fremdarbeiter schnappt sich Dieter Tarrach und zerrt ihn in einen schützenden Schuppen. Piramo hieß der Retter. Gerade mal fünf Jahre alt war Dieter Tarrach damals. 80 Jahre ist das in diesen Tagen her. Aber die Erinnerung an diesen Moment scheint unverblasst. Andere Augenblicke dieser dramatischen Flucht aus Ostpreußen sind nie im Gedächtnis des Kindes angekommen. „Ich war ja noch so jung“, sagt Tarrach. Er kennt die Geschichten trotzdem.

Eingeholt vom Kriegsgeschehen

Sein Bruder Kurt Tarrach hat sie aufgeschrieben. Er war schon 14, als die Flucht aus Siemienau im südlichsten Zipfel Ostpreußens begann. Am 18. Januar 1945 war das, eine Stunde vor Mitternacht. Zum 50. Jahrestag des Kriegsendes notierte Kurt Tarrach: „Mit einem Pferdewagen reihten sich meine Mutter mit meinen drei jüngeren Brüdern und unserem italienischen Fremdarbeiter Piramo, der damals 24 Jahre alt war, in den Treck in Richtung Norden ein. Keine 24 Stunden später holte uns der Krieg, der uns bisher verschont hatte, mit voller Wucht ein.“

Schreckliche Gewalt

Die Wucht bestand aus Bomben und Bordwaffen, mit denen russische Tiefflieger die Flüchtenden unter Beschuss nahmen. Hier deckt sich die Erinnerung des ältesten Bruders mit der des jüngsten. Piramo wird erstmals zum Retter. Dank seiner Umsicht wird die Familie nur zum Beobachter, nicht aber zum Opfer schrecklicher Gewalttaten gegen die Menschen im Treck. Erschießungen, kollektiver Selbstmord aus Angst vor Vergewaltigungen. Dann gerät Piramo in russische Gefangenschaft.

Retter hat es zurück nach Italien geschafft

Die Verbindung ist nicht abgerissen, sie ist nur unterbrochen. Zu Fuß tritt der Italiener von Odessa aus den Weg in die toskanische Heimat an. Kurt Tarrach weiß es von ihm selbst. Ein Suchdienst hat den guten Geist der Familie aufgespürt. Tarrach fährt später gleich mehrfach über die Alpen, die Familie des Fremdarbeiters und der älteste Flüchtlingssohn freunden sich an. Dieter Tarrach, der Jüngste, bekommt das mit. Aber es entwickelt sich keine persönliche Verbindung mehr daraus.

Als Schmied bei der REME gefragt

Zehn ist er, als der Vater aus der Gefangenschaft zurückgekehrt und die Familie endlich wieder unter einem Dach vereint ist. In der Freiheit von Wetter. In Ostpreußen hatte der Vater eine Schmiede. Jetzt wurde er bei der REME gebraucht. Über das Siegerland und dann den südlichen Kreis Olpe fand die Familie an der Ruhr zusammen. „Es war ein langer Weg“, seufzt Dieter Tarrach. Am Ende hat er ihn zum Arbeitsvorbereiter bei der REME und zum Hausbesitzer in der Freiheit gemacht. Begleitet haben ihn dabei immer aufs Neue die Geschichten von der Flucht.

Geschichten von der Flucht

Auch seine Frau kennt sie mittlerweile. Zu hohen Festtagen und Geburtstagen und auch sonst im Kreise der Familie war die Vergangenheit gegenwärtig, wie Renate Tarrach bestätigt. „Wenn wir auf Verwandtenbesuch waren, war die Flucht immer Thema“, sagt sie. Und damit das Panzergedröhn und brennende Häuser und Erschießungen beim Fluchtversuch. Später kamen dann die Erfahrungen der neuerlichen Flucht aus Mecklenburg-Vorpommern in den Westen hinzu. Da war Dieter Tarrach dann alt genug, um das Erlebte selbst zu verarbeiten. „Wir waren nicht immer willkommen“, fasst er seine Erlebnisse als Flüchtlingskind in Westdeutschland zusammen.

Besuch in der alten Heimat

In Wetter ist er mit den Jahren heimisch geworden. Und doch wollte er wissen, was aus der früheren Heimat geworden ist. Zweimal war er im mittlerweile polnischen Siemienau. Wo früher mal Hof und Schmiede standen, ist jetzt Brachland. Dafür gibt es einen Neubau zur Straße hin. Es steht genau da, wo einst der blumengesäumte Weg zum Elternhaus begann. Sein ältester Bruder Kurt, der heute in Witten lebt, hat sich die Bilder der Erinnerung zeichnen lassen. Fotos gehörten nicht zu dem, was die Familie mit auf die Flucht nehmen konnte. „Ich bin ja nur mit einem Rucksack hier angekommen“, sagt Dieter Tarrach beinahe entschuldigend.

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Zwei Kinder haben Dieter und Renate Tarrach, einen Sohn und eine Tochter. Die Eckdaten aus dem Leben ihres Vaters kennen sie. In Ostpreußen geboren. Nach Mecklenburg-Vorpommern und schließlich in den Westen geflohen. Und all die Geschichten von Piramo, dem Retter vor den russischen Gewehrsalven oder von den vielen Zwischenstationen? „Wir sind da nicht so ins Detail gegangen“, sagt Dieter Tarrach. Passte nicht so in die Zeit. Heute schon wieder eher, denkt der Wetteraner. Er verfolgt das Weltgeschehen, und beim Thema Kriegsgefahr oder Flucht rückt es ganz nah an den Senior und seine Erinnerungen heran.