Herdecke. Verfolgt und vergessen: Stolpersteine am Wegrand erzählen von den Opfern des Rassewahns. Über einen besonderen Spazierweg durch die Stadt

Herdecke ist reich an schönen Spazierwegen. Wer sich in diesen Tagen besonders üppig gedeckter Tafeln ein wenig die Beine vertreten will, kann das am Nacken ebenso tun wie an der Teufelskanzel in der Nähe vom Waldfriedhof. Allerdings müssen sich Spaziergänger dafür ein wenig an die Ränder der bebauten Gebiete begeben, und matschig werden kann es auch ganz schnell. Nicht so bei diesem Spaziervorschlag der besonderen Art.

Eine große Liebe

Sechs Stolpersteine sind in Herdecke verlegt, fünf davon im Bereich der Innenstadt. Sie erinnern an Menschen, die unter der Herrschaft der Nationalsozialisten gelitten haben und deren Rassenwahn zum Opfer gefallen sind. Sie alle sind aufzufinden in einer Handy-App, die der WDR in Auftrag gegeben und für die der Herdecker Geschichtslehrer Willi Creutzenberg Fakten zusammengetragen hat.

Fünf Stolpersteine auf einem Weg. Der sechste liegt in Ende und erinnert an Wilhelm Huck.
Fünf Stolpersteine auf einem Weg. Der sechste liegt in Ende und erinnert an Wilhelm Huck.

Beispiel Wilhelm Vormbaum. Im Alter von 24 Jahren ist er im Mai 1944 in Marseille hingerichtet worden. Bei einem Landgang hat der Matrose die rechtzeitige Rückkehr verpasst. Mitglieder der Widerstandsbewegung verstecken ihn. Der Herdecker lernt Andrée Beillant kennen und lieben. Fast ein Jahr lebt er im Untergrund, dann wird er zufällig entdeckt. Wegen Fahnenflucht wird er zum Tode verurteilt. „Das Schicksal hat mich von Andrée getrennt, aber ich habe nicht aufgehört, sie zu lieben“, schreibt er in seinem letzten Brief an die Eltern ins Haus Habigstraße 3. Davor liegt seit ein paar Jahren ein Stolperstein.

Nur einem gelang die Flucht

„Hier wohnte Wilhelm Vormbaum, Jahrgang 1919“, steht auf der Oberfläche des Messingsteins, der im Fußweg eingelassen ist. Darunter ist Platz für die zentralen Daten: desertiert, verhaftet, gefangen, verurteilt, hingerichtet. Die Geschichte dahinter erzählt ein handelsübliches Handy, auf dem die Stolperstein-App des WDR installiert ist. Über eine Kartenfunktion in der App ist der Stolperstein in der Habigstraße zu finden. Einmal auf das Stein-Symbol geklickt, erscheinen ein Bild des Steins, Fotos zu der Stolpersteinaktion mit 17.510 verlegten Steine allein in NRW und die Geschichte unter der Überschrift „Mein größter Schatz.“

Sogar Routenvorschläge werden gemacht. Gerade mal 15 Minuten Fußweg sind es die Habigstraße hoch durch die Grünanlage an der ehemaligen Vinckenberggrundschule vorbei den Wienberg hinunter zur Hauptstraße 72. Gleich drei Stolpersteine auf einmal sind hier auf dem schmalen Bürgersteig eingelassen. Erinnert wird an Sally Grünewald, Jahrgang 1887, deportiert 1941, ermordet in Riga. Im selben Jahr deportiert und in Riga ermordet wurde auch Paula Grünewald, Jahrgang 1889. Nur Heinz Grünewald, Jahrgang 1919, hat es geschafft: Ihm gelang 1939 die Flucht nach England.

Stolpersteine in Herdecke
App mit Schwächen: Der Scan vom Stolperstein für Wilhelm Vormbaum am Sonnenstein will nicht gelingen.  © WP | Klaus Görzel

Die Familie von Heinz Grünewald hatte in Herdecke ein kleines Geschäft für Textilien und Möbel betrieben. Vater Sally stand im Laden. Mutter Paula kümmerte sich um Heinz. Mit der Machtübernahme der NSDAP gerieten die Grünewalds zunächst in finanzielle Not. Wegen des Boykotts jüdischer Geschäfte konnte die Familie nicht mehr vom Erlös leben. Während der Novemberpogrome wurde ihr Laden demoliert und geplündert. Die Familie zog nach Köln, Paula und Sally Grünewald wurden von dort nach Riga verschleppt.

Eine weitere Handy-App führt zu diesen Lebensgeschichten. Sie ist gesponsert vom Landesbeauftragten für politische Bildung in Schleswig-Holstein und soll es noch leichter machen, die Schicksale hinter den Aufschriften aufzuspüren. Einfach das Handy über den Stein halten, das Messing-Quadrat im zentralen Scan-Feld platzieren, und schon sprudeln die Infos. Zumindest in der Theorie. Der Versuch, die Herdecker Stolpersteine auf diese Art zum schnellen Zugang zu biografischen Angaben zu machen, schlägt jedenfalls fehl. Reicht es der App nicht an Licht, das an einem Dezembervormittag schon mal trübe sein kann? Stört der Regen, der die Oberflächen spiegeln lässt? Zum Glück zeigt sich die WDR-App robuster.

Stolpersteine in Herdecke
Ermordet in der "Heilanstalt": An der Goethestraße erinnert ein Stolperstein an Inge Streerath. Die Nationalsozialisten hatten ihr Leben für unwert erklärt. © WP | Klaus Görzel

Auch an der dritten und letzten Station in der Herdecker Innenstadt funktioniert sie reibungslos. Nicht mal zehn Minuten hat der Fußweg vom früheren Haus der Grünewalds dorthin gedauert. Der Stolperstein vorm Gebäude mit der Nummer 21A erinnert an Inge Streerath, geboren 1921, ermordet am 13. August 1941 in der „Heilanstalt“ Hadamar. Von der Geburt her waren Bereiche von Inge Streeraths Hirn geschädigt, nach einer OP konnte sie nicht mehr sprechen oder eigenständig handeln. Die Eltern gaben ihr Kind in gutem Glauben in eine Pflegeeinrichtung. Tatsächlich liefen schon kurz später die Vorbereitungen für die systematische Tötung von geistig Behinderten.

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„Schreckliche Dinge sind damals geschehen“, sagt eine Seniorin aus einem der Altenheime die Goethestraße ein wenig hinauf. Sie wartet auf den Bus und hat den Messingstein vor der Einfahrt zum Haus 21A bislang noch nicht wahr genommen. Gerade kommt der Bus auf die Busbucht zu. Beim nächsten Mal will sie sich die Zeit nehmen für eine genauere Betrachtung, sagt die Seniorin und steigt ein. Vielleicht reichen ihr die Angaben auf dem Stein, um sich ausreichend ein Bild der Verfolgung der des Mordens auszumalen. Selbst wenn sie sich dann nicht von einer App zur nächsten Erinnerungsstelle führen lässt, hat dieser Stein seinen Zweck erfüllt: Er hat die Gedanken stolpern lassen, und das, obwohl er völlig bodengleich ins Pflaster eingelassen ist.

Die Stolperstein-Apps lassen sich im Playstore oder App-Store herunter laden.