Hagen. Wie früh sollten Kinder an Smartphones? Welchen Einfluss hat Zuwanderung auf kindliche Entwicklung? Gespräch mit dem Kinderschutzbund.
Es wäre ja schon sehr erwähnenswert, dass der Kinderschutzbund 50 Jahre alt wird. Gerade in Hagen aber kommt so viel zusammen, dass dem Kinderschutzbund hier angesichts von Zuwanderung, sozialer und kultureller Durchmischung, Digitalisierung und vielen innerfamiliären Konflikten eine besondere Rolle zukommt. Geschäftsführerin Heike Kiefer über ihre Arbeit in einer Stadt, die selbst über sich erklärt hatte, mancher Lage nicht mehr Herr zu werden.
Die Mission klingt so leicht wie sie schwierig ist: „Kindern einen Platz im öffentlichen Leben geben und ihre Lebensbedingungen in Hagen verbessern.“ Diese Vision treibt den Kinderschutzbund seit nunmehr 50 Jahren in Hagen an.
1973 trat in Hagen eine kleine, engagierte Gruppe um Peter Buhle an. Sie gründete hier den Ortsverband des Kinderschutzbundes in Hagen. Was 1974 in Altenhagen mit einem kleinen Ladenlokal mit Platz für einen Schularbeitskreis und einen Kleiderladen begann, führte 1984 über ein weiteres Ladenlokal in die Franzstraße, 1985 nach Eilpe zum kleinen Fachwerkhaus in der Riegestraße, 2007 schließlich zum Bau des eigenen „Hauses für Kinder“ in der Potthofstraße.
Großer Lob für das Team
Im Haus für Kinder an der Potthofstraße übernimmt Heike Kiefer die Verantwortung dafür, dass dieses für die Stadt so wichtige Geflecht läuft und funktioniert. Sie lobt ihr Team, das Herzblutz jedes Einzelnen.
Aber sie blickt auch konstruktiv-kritisch auf die Lage des eigenen Hauses und jene in der Stadtgesellschaft. „Wir wollen und müssen noch mehr offene Anlaufstellen bieten. Es gibt einen unheimlichen Bedarf, Angebote noch niedrigschwelliger anzubieten“, sagt Heike Kiefer, selbst Mutter zweier längst erwachsener Kinder und vor ihrem Kinderschutzbund-Engagement als leitende Bankangestellte tätig. „Wir sind aber auch nicht das Jugendamt. Wir wollen für Kinder einen Rückzugsort bieten“, betont sie die besondere Sensibilität des Themas.
Einen solchen offenen Treff soll es bald geben für Kinder zwischen 8 bis 13 Jahren. „Kinder, die vorpubertär sind und zum Beispiel Druck auf der weiterführenden Schule verspüren. Wir wollen in dieser Zielgruppe auch medienpädagogisch arbeiten. Dass das Smartphone in das Leben dieser jungen Menschen tritt zu diesem Zeitpunkt des Lebens, kann vieles verändern“, so Heike Kiefer.
Der emotionale Reifegrad
Kinder begegnen in diesem Alter Dingen, die ihnen in einer Vor-Smartphone-Zeit viel dosierter und behutsamer nahegebracht wurden oder die noch lange verschlossen blieben. Darstellungen von Gewalt, von Pornographie, von Fake-News und Inhalte von Verschwörern. „Hinzu kommt ein völlig anderer Umgang im sozialen Miteinander“, sagt Heike Kiefer.
Diskriminierung, Ausgrenzung, Veralberung, Verhöhnung, Beschuldigung und Diffamierung seien heute nichts mehr, was von Angesicht zu Angesicht auf Schulhöfen geschehe, wo man das Aushalten und den Umgang damit erlernen konnte. „Das geht heute sekundenschnell in sozialen Netzwerken mit riesiger Prangerwirkung. Die sozialen und seelischen Folgen für Kinder sind viel größer.“ Heike Kiefer spricht von „einem emotionalen Reifegrad, mit diesen Dingen umzugehen.“ Ihn den Kindern beizubringen, sei eines der Ziele der täglichen Arbeit.
Die Herausforderung Smartphone
„Wenn ich im Gruppenchat irgendwann dran bin, kann das aus Kindersicht sehr schwierig werden. Konflikte sind heute gesichtslos und hinterlassen viel größere Spuren. Man kann als Elternteil nicht 24 Stunden da sein und versuchen, die Situation zu kontrollieren. Früher waren in Mobbing-Situationen andere noch daneben, die einen aufgebaut oder in der Situation reguliert haben. Das gibt es nicht mehr. Wir müssen bei unseren Angeboten auch die Eltern mitnehmen. Die meisten möchten es ja richtig machen“, betont Heike Kiefer.
In Hagen seien überdies zwei weitere Phänomene besonders zu betrachten. Das eine ist, dass es viel mehr Fälle des begleiteten Umgangs gebe. Er bietet die Möglichkeit, dem Kind den Kontakt zu beiden Eltern zu ermöglichen oder wieder herzustellen. Begleiteter Umgang kommt zustande nach Absprache mit dem Jugendamt oder durch familiengerichtliche Vereinbarungen oder Anordnungen. „Generell stelle ich gesellschaftlich fest, dass den Eltern, egal ob jünger oder älter, die Vorbilder fehlen. Es fehlt eine Vorprägung, die wie ein wichtiger Kompass bei der Erziehung und auch beim Aufrechterhalten von Beziehungen ist. Viele sind schlichtweg überfordert in diesen Zeiten“, so Heike Kiefer.
Zuwanderung wirkt verstärkend
„Die starke Zuwanderung nach Hagen wirkt vor diesem Hintergrund wie ein Beschleuniger der sich verschlechternden Lage für Kinder. Denn nun sehen wir auch viele Kinder, die aus Fluchtsituationen kommen, die teilweise auch traumatisiert sind. Heimatlosigkeit ist ein Thema. Fremd zu sein ebenso. Die Sprachbarrieren auch. Dazu das Aufeinanderprallen vieler Kulturen. Auch diesen neuen Familien in Hagen machen wir unser Angebot und es wird auch sehr gut angenommen. Da ist unsere Lage im Herzen der Stadt ganz wichtig.“
Auch die Eltern der zugewanderten Kinder würden Hilfe benötigen. Heike Kiefer regt an, einen Perspektivwechsel vorzunehmen: „Wenn ich mir täglich um meine Existenz Sorgen machen muss, kann ich nicht noch mit ganzer Kraft die besten Bildungsangebote für die Kinder auffahren. Dann muss ich sehen, dass das Essen auf den Tisch kommt.“