Hagen. Anna Toney wagt mit 68 Jahren den Schritt in ein neues Leben: Für ihre Kirche zieht die Mormonin als Missionarin nach Südkorea.
Die meisten Menschen stellen sich ihren Lebensabend wohl so vor: die Freizeit aktiv gestalten, aber auch Ruhe suchen und vielleicht das Nichtstun genießen. Anna Toney aber stürzt sich mit 68 Jahren noch in ein Abenteuer, sie zieht nach Südkorea, um in dem fernöstlichen Land zu arbeiten.
Nicht als Aupair-Oma, nicht als Helferin eines Sozialprojektes, nicht als Übersetzerin oder gar im Auftrag eines Unternehmens wird sie in Südkorea tätig werden, sondern der Glaube treibt sie an. Anna Toney zieht es aus religiösen Gründen nach Suji, einer Stadt südlich der Metropole Seoul. Sie wird dort als Missionarin im Dienste der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage tätig werden. „Als Senior-Missionarin“, sagt sie verschmitzt über ihre 68 Jahre: „Aber ich habe überhaupt keine Angst. Ich bin ein positiver Mensch geworden.“
Ein Prophet namens Joseph Smith
Anna Toney ist Mormonin, sie gehört der kleinen Gemeinde in Hagen an, die weite Teile des Umlandes bis nach Siegen umfasst und gerade einmal 259 Mitglieder zählt. Die Mormonen glauben, dass sich die Kirche nach dem Tode Jesu und der Apostel im stetigen Niedergang befunden habe. Erst in der Person von Joseph Smith (1805 bis 1844) sei erstmals wieder ein Prophet auf der Erde aufgetreten und habe eine Kirche nach Gottes Gefallen gegründet – in Amerika, dem Gelobten Land.
Allerdings lehnen die Mitglieder der Kirche es inzwischen ab, als Mormonen bezeichnet zu werden. Allzu groß ist die Furcht, mit den fundamentalistischen Vertretern dieser Glaubensrichtung, die nach wie vor der Polygamie anhängen, in einen Topf geworfen zu werden.
Mit der von Smith noch eifrig praktizierten Vielehe, die schon damals heftige Konflikte mit anderen Teilen der Gesellschaft hervorrief und dazu führte, dass der „Prophet“ von einer aufgebrachten Menge in den USA gelyncht wurde, wollen die Heiligen der letzten Tage nichts zu tun haben. Wenn ein Mann sich mehr als eine Frau nehmen würde, hätte das seinen sofortigen Ausschluss aus der Gemeinde zur Folge.
Mit dem katholischen Glauben gehadert
Für Anna Toneys religiöses Engagement spielen derlei Überlegungen ohnehin keine Rolle. An der Seite eines britischen Berufsoffiziers, von dem sie mittlerweile geschieden ist, und als Mutter von zwei Kindern hat sie ein bewegtes Leben hinter sich. Da ihr Mann häufig versetzt wurde, zog die Familie immer wieder um.
Ihren eigentlichen Glauben - Anna Toney ist katholisch erzogen worden - hatte sie da schon längst aufgegeben: „Ich gruselte mich regelrecht davor in die Kirche zu gehen, weil Jesus dort am Kreuz hing. Das war ein Alptraum für mich. Ich musste immer wieder hingucken, obwohl es mich davor grauste.“ Zudem habe ihr niemand eine befriedigende Antwort auf die drängende Frage, warum Neugeborene mit der Erbsünde geboren werden, geben können.
Kein Kaffee, kein Schwarztee, kein Alkohol
So wandte sie sich ab von der katholischen Kirche. Doch ihr Interesse an religiösen Fragen war damit nicht erloschen, und beim Besuch einer Freundin in Florida fand sie vor zehn Jahren erstmals Kontakt zur Kirche der Heiligen der Letzten Tage. Als sie zu einem dreistündigen Gottesdienst eingeladen wurde, schwante ihr zunächst Übles: „Ich dachte, wie soll ich das so lange aushalten. Die Amerikaner meinen ja immer, sie müssten alles eine Spur größer machen. Aber dann imponierte mir, wie respektvoll dort alle miteinander umgingen. Es stand nicht nur einer vorne und redete, sondern alle hatten ihren Platz und trugen zu der Versammlung bei. Und es gab kein Kreuz. Das war eine Erleichterung für mich.“
Doch der Kirche trat Anna Toney erst bei, nachdem sie sich von einer Brustkrebs-Operation erholt hatte und das Kaffeetrinken aus gesundheitlichen Erwägungen aufgeben wollte: „Ich habe mir vorgenommen: Wenn du es sechs Wochen lang schaffst, die Finger vom Kaffee zu lassen, dann trittst du der Kirche bei.“ So fanden theologische und pragmatische Erwägungen ganz von selbst zueinander, denn Mormonen trinken grundsätzlich keinen Kaffee, keinen Schwarzen Tee und vor allem keinen Alkohol - eine eherne Glaubensregel.
Den inneren Frieden gefunden
Bis heute ist Anna Toney die einzige „Mormonin“ in ihrer Familie. Sonntags treffen sich die Gläubigen aus Hagen und Umgebung im 1985 errichteten Gemeindehaus an der Kreishausstraße, um über das Evangelium und Herausforderungen des Alltags zu sprechen sowie das Abendmahl mit Brot und Wasser zu feiern. Sie sagt, sie habe in dieser Kirche ihren inneren Frieden gefunden. Sie sagt, der Tod sei für sie kein Besorgnis erregendes Ereignis, seitdem sie wisse, dass sie ihre Eltern wiedersehen werde. Sie sagt, auf der Erde bleibe uns Menschen nur eine kurze Zeit, um Erfahrungen zu sammeln für das, was danach folge.
Ja, sagt sie, sie glaube fest daran, dass dem Farmersohn Joseph Smith ein Engel erschienen sei und ihn zu einem aus Goldplatten gefertigten, in einem Hügel aufbewahrten Buch geführt habe (angeblich übersetzte Smith den später als Buch Mormon - einer der Propheten, die die Schrift hunderte Jahre zuvor verfasst haben sollen - bekannt gewordenen Text aus dem Altägyptischen ins Englische und gründete die Kirche Jesu Christi).
Dass sie sich mit 68 noch einmal aufmacht und für ihren Glauben in ein fremdes Land zieht, um dort im Missionsbüro für ihre Kirche zu arbeiten, hat auch damit zu tun, dass sie etwas zurückgeben will, sagt Anna Toney: „Für den inneren Frieden, den ich gewonnen habe und den ich nie mehr hergeben werde.“