Hagen. Unter der Nazi-Herrschaft gerieten ganz normale Bürger in Hagen ins Fadenkreuz der Justiz. Jede Abweichung von der Norm wurde gnadenlos verfolgt.
Erich Schröter aus Boele hatte wohl schon einige Bier intus, als am 1. Juli 1938 in „Jägers guter Stube“, einer ehemaligen Stehbierhalle am Hauptbahnhof Hagen, alle Gäule mit ihm durchgingen. Er hielt sein Glas in die Höhen und schrie: „Dies ist mein goldenes Parteiabzeichen.“ Das war zu viel für anwesende NSDAP-Mitglieder, die den Hagener für seinen feuchtfröhlichen Ausspruch denunzierten.
Schröter wurde wegen „Heimtücke“ in Untersuchungshaft genommen und vor einem Dortmunder Sondergericht angeklagt. Widersprüchliche Zeugenaussagen der übrigen Kneipengäste retteten ihn vor einer Verurteilung, er kam mit der Mahnung, gleichartige Handlungen zukünftig zu unterlassen, davon. Nach einigen Monaten durfte er das Gefängnis als freier Mann verlassen.
Vergessene Geschichten aus Hagen
Schröter hatte Glück. Doch die kleine Episode ist exemplarisch für die zahlreichen Opfer des Nazi-Terrors, über die heutzutage niemand mehr spricht. „Dass die Juden verfolgt und ermordet wurden, weiß jeder“, sagt Pablo Arias: „Und bekannt ist vielen sicherlich auch, dass die Führer der Arbeiterbewegung drangsaliert wurden.“ Aber das Schicksal vieler weiterer Opfergruppen werde kaum thematisiert, als da wären Deserteure, Zwangssterilisierte, Feindsenderhörer oder Homosexuelle. Ihre Geschichten seien weitgehend vergessen.
Gemeinsam mit Rainer Stöcker hat Arias ein Buch („Ausgegrenzt, weggesperrt, ermordet“) geschrieben über den alltäglichen Nazi-Terror in Hagen. Über Menschen wie Erich Schröter, die es wegen einer Lappalie mit der NS-Justiz zu tun bekamen. Die denunziert wurden. Die behindert waren. Die ein bisschen Geld für die Angehörigen von Inhaftierten spendeten. Die in irgendeiner Weise aus der Reihe tanzten und bedroht, gefoltert oder ermordet wurden. „Zuerst überfielen die Nazis Deutschland“, sagen Stöcker und Arias zusammenfassend über die Biografien ihres Buches.
Die einzigen Kinder starben im Krieg
Die kleine Anekdote über die monatelange Untersuchungshaft für Erich Schröter ging ja noch verhältnismäßig glimpflich aus. Böse gezeichnet von der Nazi-Herrschaft wurden Gustav und Elli Weber, die mit ihren zwei Kindern in Eilpe lebten. Gustav Weber war Kommunist und geriet als solcher mehrmals ins Zuchthaus, eben weil er Kommunist war.
Die langen Haftstrafen machten ihn gesundheitlich fertig, doch das Schicksal hielt noch einen besonders hinterhältigen Schlag für das Ehepaar bereit. Die einzigen beiden Söhne fielen an der Front, sie ließen ihr Leben im Krieg für das verhasste Regime. Rainer Stöcker berichtet, Elli Weber sei 1960 als verbitterte, vereinsamte Frau gestorben, die nach dem Tod ihres Mannes in einem erschütternden Brief festgestellt habe: „Wenn mir doch wenigstens einer geblieben wäre. Ich habe so viel geweint, dass ich jetzt fast erblindet bin.“
Spannende Biografien
Das Regime habe eine Vielzahl von Gesetzen und Verordnungen zur Abschreckung und zur Absicherung seiner Macht hinterlassen, schreiben Stöcker und Arias: „Sie reichten bis weit in den Alltag hinein. Selbst geringfügige Verstöße konnten schwerwiegende Folgen haben. Schnell geriet man ins Visier von Polizei und Justiz.“
Das Buch der beiden Pädagogen mag inhaltlich schwer verdaulich sein, bisweilen lässt einen die bizarre Brutalität und Unmenschlichkeit, die seinerzeit in Deutschland herrschten, schockiert zurück. Doch dafür ist es umso leichter lesbar, was daran liegt, dass die Autoren das Leben jener Opfer, denen sie mit diesem Besuch ein Gesicht geben, in kurzen, spannenden Biografien darstellen (manche Kapitel sind von Angehörigen geschrieben). Das Buch kostet 15 Euro und ist in den Hagener Buchhandlungen erhältlich.