Haßley. Im Januar ist Jeremy (9) in einen Horror-Unfall verwickelt, bei dem fast seine Beine abgetrennt werden. 335 Tage später läuft und reitet er.
Nur 335 Tage später veröffentlichen wir diese Zeilen – und sie gehören zu den schönsten und hoffnungsvollsten, die man sich für die letzte Ausgabe eines Jahres nur wünschen kann.
Jeremy Hein (9) hat es geschafft. Er läuft wieder, und er reitet wieder. Und das, obwohl ein mit fast 50 Stundenkilometern heranrutschender Wagen ihm fast beide Beine abgetrennt hätte, als er sich bei offener Beifahrertür gerade den Schnee von den Schuhen klopfen wollte. „Ich werde wieder auf einem Pferd sitzen“, hatte der Neunjährige im letzten Januar gesagt. So ist es gekommen.
Es klingt immer so kalenderspruchmäßig, wenn man sagt: „Dagegen sind meine Probleme aber klein.“ Und es ist eigentlich auch nicht gerecht. Jeder hat Sorgen und Ängste. Auf die ein oder andere Weise. Wenn man aber vielleicht zum Jahresende in der Stimmung ist, darüber nachzudenken, was das kommende Jahr wohl bringen mag, dann kann ein Mensch wie Jeremy Hein jemand sein, an dem man sich orientieren kann. Denn der Junge hat neben großem Glück bislang vor allem eines gehabt: eine Haltung zu sich selbst und zu seinem Leben.
30. Januar 2019. Es schneit. Die Straßen sind glatt und rutschig. Jeremy und seine Mutter Nina wollen vor ihrem Haus ins Auto einsteigen. Sie wollen zum Pferdestall nach Menden fahren. Der Junge ist ein hochtalentierter und geförderter Springreiter. Die Beifahrerseite, an der er einsteigt, deutet zu einem abschüssigen Weg. Jeremy öffnet die Beifahrertür und setzt sich so seitlich auf den Sitz, dass seine Beine und Füße aus dem Auto heraushängen. Er will sich vor dem Einsteigen den Schnee von den Schuhen klopfen, in dem er die Füße aneinander schlägt.
Wagen rauscht mit 50 Sachen heran
Ein VW mit einem 22-jährigen Fahrer fährt heran. Auf der rutschigen Straße kann er nicht mehr abbremsen. Er knallt mit mindestens 50 Sachen in die Beifahrerseite der Heins, an der Jeremy sich gerade die Schuhe abklopft. Dabei wird die offene Beifahrertür zugeschlagen. Sie ist jetzt geschlossen, obwohl Jeremys Beine sich noch außerhalb des Fahrzeugs befinden. Sie sind zertrümmert, mehrfach gebrochen, aber nicht abgetrennt. Mutter Nina gelingt es, die Beifahrertür zu öffnen. Sie legt ihren Sohn neben den Wagen auf die eingeschneite Erde. Die Polizisten Kristina Rüth und Marc Britz kommen in einem Streifenwagen angefahren.
Kristina Rüth nimmt in den kommenden Minuten eine wichtige Rolle ein. Weil auch sie Reiterin ist, verwickelt sie Jeremy in ein Gespräch über Pferde, das ihn bei Bewusstsein hält. Jeremy hat sich später bei den Polizisten dafür bedankt und auch in diesem Gespräch noch einmal betont, dass er alles geben werde, um wieder auf die Beine zu kommen.
Drei Operationen, etliche Therapiestunden und zahlreiche Trainingsmaßnahmen später grenzt das aktuelle Bild von Jeremy Hein schon fast an ein Wunder. Er steht, er läuft, er reitet wieder. „Wir haben noch viel Arbeit vor uns, vor allem auch im psychischen Bereich. Aber das schaffen wir, vor allem, wenn wir es schon bis hier hin geschafft haben“, sagt seine Mutter Nina (35). Jeremys Körper durchzieht – etwas vereinfacht gesprochen – noch ein kompletter Schiefstand. Die Knochen sind quasi verbogen.
Sichtungsturniere stehen an
Das klingt alles so fürchterlich traurig. Und doch ist es das nicht. „Jeremy ist auf einem super guten Weg und das ist für die ganze Familie unglaublich“, sagt Nina Hein. Er mache sich so gut, dass er demnächst wieder auf Sichtungsturnieren reiten werde.
Das alles hat Jeremy Hein binnen eines Jahres erlebt. In nur 335 Tagen vom Horror-Unfall zurück in das (fast) alte Leben. Von dem Mut und der Zuversicht Jeremys kann man sich eine Scheibe abschneiden. Und von seiner Güte. Zu dem Mann, der in dem Golf saß, der ihm die Beine zertrümmerte, sagte Jeremy Hein am Telefon: „Ich werde wieder gesund. Und ich glaube dir, dass du das nicht mit Absicht gemacht hast.“