Staplack. . Nur die Vorstellung davon, was Jeremy geschehen ist, lässt Unbeteiligte erschrocken zurück. Doch in dieser Geschichte steckt ganz viel Hoffnung.

Lieber Gott, was soll man nur denken, wenn man den neunjährigen Jeremy Hein in diesem Krankenbett im Haus seiner Familie am Staplack liegen sieht? Soll man stinkwütend sein und an gar nichts mehr glauben? Oder soll man in diesem Fall sehen, wie viel Hoffnung trotz aller Traurigkeit doch besteht?

Lieber Gott, Jeremy nimmt uns diese Entscheidung ab. „Das hat der Autofahrer ganz bestimmt nicht mit Absicht gemacht. Und ich werde bald wieder auf meinem Pferd sitzen“, sagt Jeremy aus seinem Bett heraus. Ein fürchterlicher und brutaler Zufall hat den Jungen am 30. Januar dieses Jahres in diese Lage gebracht. Und er begegnet ihr trotz aller Traumatisierung und Schmerzen mit Zuversicht und einer Güte, die so groß ist, dass man es fast gar nicht verstehen kann.

Als Jeremy verletzt im Schnee lag, lenkte die Pferde-Freundin und Polizistin Kristina Rüth ihn ab, bis die Rettungskräfte eintrafen.
Als Jeremy verletzt im Schnee lag, lenkte die Pferde-Freundin und Polizistin Kristina Rüth ihn ab, bis die Rettungskräfte eintrafen. © Michael Kleinrensing

Der 30. Januar ist ein Mittwoch. Es schneit stark über Hagen. Die Straßen sind glatt und rutschig. Vor ihrem Haus wollen Jeremy und seine Mutter Nina ins Auto einsteigen. Sie wollen zum Pferdestall nach Menden fahren. Der Junge ist ein hochtalentierter und geförderter Springreiter. Die Beifahrerseite, an der er einsteigt, deutet zum abschüssigen Köhlerweg, der Staplack mit Emst verbindet. Jeremy öffnet die Beifahrertür und setzt sich so seitlich auf den Sitz, dass seine Beine und Füße aus dem Auto herausragen. Er will sich vor dem Einsteigen den Schnee von den Schuhen klopfen, in dem er die Füße aneinander schlägt.

Mutter funktioniert wie eine Maschine unter Schock

In dieser Sekunde rauscht vom Köhlerweg ein VW mit einem 22-jährigen Fahrer heran. Auf der rutschigen Straße kann er den VW in der Kurve vor dem Haus der Heins nicht abbremsen. Er knallt mit mindestens 50 aber wohl mehr Stundenkilometern in die Fahrzeugseite der Heins, an der Jeremy sich gerade die Schuhe abklopft. Dabei wird die offene Beifahrertür mit heftiger Wucht zugeschlagen. Neben dem riesigen Schaden, der an den Autos entsteht, ist diese Tür nun geschlossen, obwohl Jeremys Beine sich noch außerhalb des Fahrzeugs befinden. Sie sind zertrümmert, mehrfach gebrochen, aber nicht abgetrennt. Jeremys Mutter Nina brüllt aus dem Panoramadach des Wagens in Richtung Unfallfahrer, dass er sofort seinen Wagen zurücksetzen solle. Dann tritt sie mehrfach gegen die Tür, die Jeremy einklemmt, bis sie sich endlich öffnet. Sie funktioniert wie eine Maschine unter Schock und will ihren Sohn befreien. Sie kann die Tür öffnen, legt ihren Sohn neben den Wagen auf die eingeschneite Erde.

Highlight für den kleinen Jeremy:
Highlight für den kleinen Jeremy: © Michael Kleinrensing

Wenige Augenblicke später rauscht ein Streifenwagen heran. Er ist kurz vor den Rettungskräften da. An Bord: Die Polizisten Kristina Rüth (29) und Marc Britz (25). Natürlich werden auch diese beiden Beamten nun in all ihrer Professionalität funktionieren. Doch während Marc Britz die Unfallstelle sichert, tut Kristina Rüth etwas unheimlich Wichtiges in dieser Situation. „Ich habe die Reithose und die Reitstiefel von Jeremy gesehen, als er da lag“, sagt sie. Sie ist selbst Reiterin. Also verwickelt sie den zwischen Ohnmacht und unfassbaren Schmerzen schwebenden Jungen in ein Gespräch über die Reiterei und diese ganz besondere Leidenschaft, die sie beide teilen. Jeremy und Kristina Rüth sind in der hektischen Notfallsituation ganz kurz so etwas wie Reiter-Freunde. Der Neunjährige und die 29-Jährige erleben einen Moment der Gemeinsamkeit und der Vertrautheit, der den Jungen bei Bewusstsein hält. Die Retter treffen ein,versorgen ihn, bringen ihn in eine Klinik.

Ein Bild vom Unfallort: Der weiße VW war in die Seite des Fahrzeugs von Familie Hein hineingekracht.  
Ein Bild vom Unfallort: Der weiße VW war in die Seite des Fahrzeugs von Familie Hein hineingekracht.   © Polizei Hagen

Vergangener Mittwoch. Es klingelt am Haus der Heins, in dem im Erdgeschoss ein Arbeitszimmer liebevoll zu einem Krankenzimmer für Jeremy hergerichtet wurde. Jeremys Blick wirkt zunächst nüchtern, dann verlegen. Und plötzlich strahlt er. Kristina Rüth und Marc Britz sind da. Die Frau, mit der er seinen Pferde-Moment erlebte als er mit zertrümmerten Beinen im Schnee lag, hockt sich an sein Bett. „Ich werde wieder reiten gehen“, sagt Jeremy, „vielen Dank, dass du mir so geholfen hast.“ Kristina Rüth reicht ihm einen Polizei-Teddy auf das Bett. „Da glaube ich ganz fest dran“, sagt sie.

Mediziner geben gute Heilungschancen

Dass unendlich Gute an dieser Geschichte ist, dass wahrscheinlich nicht der Glaube, sondern wahrhaftig realistische Heilungschancen zu diesem großen Ziel des Neunjährigen führen werden. Viermal die Woche arbeitet er hart mit einem Physiotherapeuten darauf hin. „Ich kann schon bald wieder laufen“, sagt Jeremy, der Tage nach dem Unfall nicht sprechen konnte, weil er tief traumatisiert war. Seine Mutter Nina sagt: „Die Mediziner sagen, dass alles wieder gut werden kann und verheilt.“

Unfallverursacher entschuldigt sich bei Jeremy

Wenige Tage nach dem Unfall klingelte das Telefon der Familie. Der Unfallverursacher war dran. Er entschuldigte sich und bat darum, Jeremy sprechen zu dürfen. „Erst wollte ich das Telefon nicht weitergeben“, sagt Nina Hein. Doch ihr Sohn rief ihr zu, dass er es haben will. Er sprach mit dem 22-Jährigen und sagte: „Ich werde wieder gesund. Und ich glaube dir, dass du das nicht mit Absicht gemacht hast.“

Laut Staatsanwaltschaft ist das Ermittlungsverfahren gegen den Unfallverursacher noch nicht abgeschlossen. Der Verursacher hat angegeben mit 45 Stundenkilometern unterwegs gewesen zu sein. Den polizeilichen Ermittlungen nach soll die Profiltiefe des mit Winterreifen bestückten VW nicht ausgereicht haben, erklärt die Staatsanwaltschaft auf Nachfrage.