Schwelm. Melanie Muth und ihr Sohn Florian sind als Notfallseelsorger im Einsatz. So spenden sie anderen Menschen in Krisensituationen Trost.
Man wacht morgens auf, dreht sich zu seinem Lebenspartner um, möchte „Guten Morgen“ sagen und stellt fest: Der Partner bewegt sich nicht mehr. Atmet nicht. Der herbeigerufene Notarzt kann nur noch den Tod feststellen – ein plötzlicher Herzstillstand, mitten in der Nacht. Unter dem Hinterbliebenen tut sich der Boden auf. Ein Ohnmachtsgefühl erfüllt den Kopf. In diesen Ausnahmesituationen stehen die Schwelmer Melanie Muth und ihr Sohn Florian den Menschen bei. Wenn ein Unglück passiert, sind sie es, die die Betroffenen zuerst auffangen: als Notfallseelsorger.
Meisten Einsätze drehen sich um Todesfälle
Die meisten ihrer Einsätze würden sich um einen Todesfall drehen, erklärt Florian Muth, der über seine Mutter und seine frühere Arbeit als Sanitäter zur Seelsorge kam. „Bei einem Todesfall ist der Rettungsdienst angehalten, zu klären, ob die Notfallseelsorge vonnöten ist. Die wird über die Feuerwehrleitstelle alarmiert.“ Andere Einsätze handeln von Schadensereignissen, die für die Betroffenen sehr belastend sein können, wie beispielsweise die Chaos-Fahrt eines Lkw-Fahrers vor wenigen Wochen oder ein Brand.
Die Seelsorger werden über eine Notfallsoftware alarmiert und fahren direkt zur Einsatzstelle. „In der Regel wissen wir, wie der- oder diejenige heißt und wissen den groben Grund für den Einsatz.“ Vor Ort geben die anderen Einsatzkräfte weitere Informationen zum Fall. „In der Regel sind wir bei den Menschen zu Hause. Wir sind erstmal für sie da, um sie seelisch zu stabilisieren – egal, welche Konfession derjenige hat. Es ist ein Angebot für Menschen von Menschen“, sagt Melanie Muth. Man sitzt zusammen, reicht dem Betroffenen die Hand, hat ein offenes Ohr.
Manchmal komme es aber auch vor, dass die Menschen gar nicht mit den Seelsorgern sprechen wollen. „Wenn gesagt wird: ,Wir brauchen Sie nicht‘, dann bleiben wir noch eine Weile in der Nähe im Auto sitzen, ob sie nicht doch noch rauskommen, um mit uns zu sprechen“, sagt Melanie Muth. Ihr Sohn hat dafür Verständnis: „Wir sind halt Fremde und kommen in deren zu Hause, wo gerade etwas Schlimmes passiert ist.“
„Notfallseelsorge ist nur für das Akute da.“
Gleichzeitig komme die Überforderung der Betroffenen dazu, da sich die meisten vorher noch nie mit dem Thema Tod beschäftigen mussten. „Wie mache ich die Bestattung, wo soll sie stattfinden?“ seien Fragen, die den Menschen häufig schnell durch den Kopf gingen. „Wir geben zumindest Hinweise für weitere Handlungsmöglichkeiten. Aber die Notfallseelsorge ist nur für das Akute da“, sagt Florian Muth.
Die Gespräche vor Ort gestalten sich immer unterschiedlich. Manchmal möchten die Betroffenen einfach nur schweigen, manchmal möchten sie von den Geschehnissen oder vom Verstorbenen erzählen. „Das sind Situationen, in denen man die Menschen antrifft, die völlig unvorbereitet sind. Das heißt: Wir müssen darauf gefasst sein, dass der Mensch nicht adäquat reagiert, weil er sich in einer psychischen Ausnahmesituation befindet.“ Der eine fange zum Beispiel plötzlich an zu lachen, die andere beginne damit, die Fenster zu putzen. „Dieses irrationale Verhalten kann passieren.“
54 Notfallseelsorger im Ennepe-Ruhr-Kreis
Im südlichen Ennepe-Ruhr-Kreis wurden die Ehrenamtler im vergangenen Jahr zu 49 Einsätzen gerufen. „Die Tendenz ist etwas steigend, weil die Besatzungen der Rettungswagen und der Polizei sensibilisierter sind für das Thema“, sagt Melanie Muth. Heute werde schon in der Ausbildung der Notfallsanitäter ein Augenmerk darauf gelegt, wie die psychische Verfassung der betroffenen Menschen ist.
„Ich bin über die psychosoziale Unterstützung (PSU) der Feuerwehr da reingerutscht“, erzählt Melanie Muth. „Für die Feuerwehr Schwelm bin ich seit fast 17 Jahren PSU-Kraft und seit zehn Jahren nun als Notfallseelsorgerin tätig.“ Heute ist Muth die katholische Koordinatorin für Notfallseelsorge im Ennepe-Ruhr-Kreis. „Wir decken den kompletten Kreis ab und sind in vier Unterteams eingeteilt. 54 Notfallseelsorger sind es aktuell.“
Seelsorger brauchen hohe Resilienz
Personen, die mit dem Gedanken spielen, als Notfallseelsorger tätig zu werden, sollten für sich klären, ob sie psychisch belastbar sind. „Man kommt zu den Menschen, wenn es ihnen überhaupt nicht gut geht. Das muss man tatsächlich aushalten können. Man braucht selbst ein ziemlich hohes Resilienzvermögen“, erklärt Melanie Muth. Derzeit würden dringend neue Kräfte gesucht.
In einer schrecklichen Situation die starke Schulter zum Anlehnen sein, mitfühlen, ohne sich den Kummer der Betroffenen zu Eigen zu machen – wie gelingt diese Resilienz im Alltag? „Mir hilft mein stabiles Umfeld, meine Familie, mein Glaube, meine Hobbys“, sagt Melanie Muth. „Wir unterliegen der Schweigepflicht, können aber natürlich unter uns Notfallseelsorgern über die Fälle reden.“ In den Einsatznachbesprechungen gebe man die eigene Belastung ab und könne mit dem, was man erlebt hat, besser umgehen.
Helfersyndrom ist Antrieb für das Ehrenamt
Natürlich seien manche Einsätze schwieriger auszuhalten als andere. „Kindernotfälle nehmen einen am meisten mit“, sagt Florian Muth. „Und wenn es eine Parallelität zum eigenen Leben gibt“, ergänzt seine Mutter. Für die 47-Jährige, die im Hauptberuf als Lehrerin arbeitet, ist der Antrieb für die ehrenamtliche Seelsorge, dass sie ein Stück das zurückgeben wolle, was sie an Gutem erfahren habe. „Reines Helfersyndrom“, sagt ihr Sohn über sie und Melanie Muth ergänzt schmunzelnd: „Ja, vielleicht. Einfach für andere Menschen da sein.“ Natürlich habe man bei vielen Fällen einen Kloß im Hals und die Betroffenen tun einem sehr leid. „Man denkt in der Regel auch nochmal ein paar Tage lang darüber nach“, sagt Melanie Muth.
Todesnachricht überbringt immer Polizei
Notfallseelsorger seien häufig mit dem Tod konfrontiert, sehen oft auch die Verstorbenen. Allerdings würden die wenigsten Einsätze mitten auf einer Straße nach einem schweren Verkehrsunfall geschehen. „Der klassische Fall ist, dass ein Mensch morgens nicht mehr wach wird oder zu Hause plötzlich stirbt“, sagt Florian Muth. Das seien circa 80 Prozent der Einsätze. „Die anderen häufigsten Fälle sind das Überbringen von Todesnachrichten.“ Doch der Seelsorger selbst spreche niemals aus, dass jemand verstorben ist, „das macht immer die Polizei“. Die Seelsorger seien nicht für das Überbringen der schlimmen Nachricht da, sondern für das Auffangen danach.
Ein Gespräch dauere zwischen einer und vier Stunden. Für die Seelsorger gebe es Hinweise, wann sie ihre Gesprächspartner alleine lassen können, zum Beispiel, wenn Angehörige kommen oder die Betroffenen unruhig werden. Melanie Muth: „Man spürt irgendwann, wann man gehen kann.“
Weitere Informationen zur Notfallseelsorge gibt es hier.
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