Schwelm. Marion Hahn und Stefanie Krah-von Reth vom Schwelmer Tafelladen sind zunehmend frustriert von der Politik, die sich zu sehr auf die Tafeln verlässt.
„Unser größter Wunsch wäre, dass wir arbeitslos werden.“ Es ist eine Aussage, die auf den ersten Blick überraschend klingen mag. Aber Marion Hahn von der Caritas Ruhr-Mitte und Stefanie Krah-von Reth der Diakonie Mark-Ruhr befinden sich in ihrem Arbeitsalltag in einem ständigen Zwiespalt zwischen der Freude, Menschen zu helfen, und der Wut und Frustration darüber, warum diese Hilfe von immer mehr Menschen benötigt wird. Die beiden Frauen teilen sich die Arbeit für die Tafel an der Wilhelmstraße in Schwelm, wo die Anzahl an Bedürftigen seit Jahren stetig steigt und auch die Warteliste immer länger wird.
Es kann jeden treffen
Drei Millionen Menschen sind in Deutschland von Ernährungsarmut betroffen. Ernährungsarmut muss dabei nicht zwangsläufig bedeuten, dass man hungrig bleibt. „Ich kann mich vielleicht satt machen, aber nicht vernünftig ernähren“, erklärt Stefanie Krah-von Reth die Situation vieler Betroffener. Was der Staat für Sozialleistungen kalkuliere, reiche ihrer Meinung nach definitiv nicht aus, um sich davon ausgewogen und gesund ernähren zu können. Die Bedarfslücke dazwischen sei „nachweislich und statistisch“ vorhanden und „nicht nur gefühlt.“
Mit einem möglichen Vorurteil will sie in diesem Zusammenhang von vorneherein aufräumen: „Es gibt wirklich keinen bei uns, der sagt: ‚Wir gehen lieber zur Tafel, anstatt arbeiten.‘“ Die Menschen, die zu ihnen kommen, könnten aus verschiedenen Gründen nicht mehr arbeiten oder gehen arbeiten, aber ihr Gehalt reiche einfach nicht aus. Psychisch oder chronisch Kranke, Alleinerziehende oder Alleinstehende könnten das genauso sein wie Geflüchtete oder Rentnerinnen und Rentner.
„Die Wege in die Armut sind vielfältig“, sagt Marion Hahn von der Caritas. Sie nennt das Beispiel eines aus Polen stammenden Mannes, der 27 Jahre in Deutschland hart gearbeitet hat und nun von 680 Euro Rente leben muss. Viele Betroffene seien auch in Zeitverträgen, teilweise prekär oder ausbeuterisch, beschäftigt. „Es kann wirklich jeden treffen“, betont Marion Hahn mit Nachdruck.
200 Kunden pro Woche
Es gäbe schon jetzt so viele, die mit der Grundsicherung nicht klarkommen. „Die Tafel wird von der Politik, die über weitere Kürzungen diskutiert, schon von vorneherein mit eingeplant“, ärgert sich Marion Hahn. In Zukunft würde es noch mehr Leute brauchen, die spenden und noch mehr Ehrenamtliche, die die Tafeln unterstützen. „Aber ist das die Verantwortung der Zivilgesellschaft, die Entscheidungen der Politik zu kompensieren?“, fragt Stefanie Krah-von Reth. Die Antwort liefert sie direkt selbst: „Der Staat ist in der Verpflichtung – das Sozialsystem ist in der Verantwortung.“
Warum die Tafel besonders im Januar Spenden braucht
In der Vorweihnachtszeit und um die Feiertage herum ist die Spendenbereitschaft in der Bevölkerung hoch. Das merkt auch jedes Jahr der Schwelmer Tafelladen. Dabei ist das auch die Zeit, wo ohnehin immer die meisten Lebensmittelspenden der Supermärkte vorliegen. Marion Hahn und Stefanie Krah-von Reth betonen, dass sie sich über die große Spendenbereitschaft zu dieser Zeit natürlich freuen, appellieren aber auch: „Die Armut hört nach Weihnachten nicht auf.“ Im Januar beginnt traditionell die Zeit, wo es deutlich weniger Spenden von Einzelpersonen gibt und gleichzeitig von den Supermärkten hauptsächlich Abschreibeware abfällt, die das Mindesthaltbarkeitsdatum bereits erreicht hat oder kurz davor steht. Daher ist die Tafel in dieser Zeit besonders auf Einzelspender aus der Bevölkerung angewiesen. „Wir sind sehr dankbar für jeden, der auch noch im Januar an uns denkt.“
Auch in Schwelm ist der Druck spürbar, die Menschen weiterhin versorgen zu können. Als 2015 während der Flüchtlingskrise die Anzahl an wöchentlichen Tafelkunden auf 140 anstieg, war das ein trauriger Rekord. „So viele hatten wir noch nie“, erinnert sich Stefanie Krah-von Reth. Mittlerweile ist es eine Zahl, die man sich zurückwünschen würde. 200 Kunden kommen aktuell jede Woche zum Tafelladen an der Wilhelmstraße. „Die Warteliste wird von Woche zu Woche länger“, sagt Marion Hahn. Teilweise setze sie vier Leute pro Stunde neu mit auf die Liste. Dazu käme noch die Dunkelziffer an Menschen, die auch bedürftig seien, sich aber beispielsweise aus Scham oder Unwissenheit nicht bei der Tafel melden.
Hohe Lebensmittelverschwendung
„Der einzelnen Person gegenüber helfen wir natürlich gerne“, sind sich beide einig, „aber eigentlich helfen wir aus Protest.“ Denn das System Tafel unterstützen sie nur ungern. „Wir füttern das System, das wir kritisieren.“ Die andere Seite der Medaille sei die hohe Lebensmittelverschwendung im Land, die einen wichtigen Baustein in diesem System bilde, damit es weiterhin funktionieren kann. Es gäbe so viele Dinge, die im Überfluss vorhanden seien. Besonders jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit würde man diesen Überfluss in den Supermärkten spüren können. Auch diese Verschwendung, von der die Tafel dann wiederum in Form von Lebensmittelspenden profitiert, sehen die beiden kritisch.
Aus ihrer Sicht müsse es möglich sein, dass in Deutschland alle Menschen gut versorgt sind und der Bedarf aller gedeckt werden kann, während gleichzeitig die große Lebensmittelverschwendung vermieden wird. Von der Sozialpolitik würden sie sich beispielsweise angepasste Regelsätze für Bürgergeld und Sozialhilfe sowie angepasste Rentenansprüche wünschen.
Großer Einsatz von Ehrenamtlichen
Dass die Tafeln in Deutschland trotz steigendem Druck überleben und sich um so viele Bedürftige kümmern können, liegt an den vielen Ehrenamtlichen, die es zum Glück auch in Schwelm noch ausreichend gibt. Sie alle tragen mit ihrem Einsatz dazu bei, dass das System nicht zusammenbricht. Einige seien seit der ersten Stunde dabei, als der Tafelladen 2006 eröffnete. „Es gibt welche, deren Geburtsjahr in den 40ern liegt und die sich trotzdem den Stress antun und noch die Kisten schleppen“, erzählt Marion Hahn. Man dürfe sich keine Illusionen machen. Es sei ein Knochenjob und definitiv „keine dekorative Arbeit“, die die Ehrenamtlichen dort leisten.
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„Es ist oft auch eine ekelige Arbeit“, erklärt Marion Hahn. Zum Beispiel, wenn verdorbenes Obst oder Gemüse aussortiert werden muss. Dennoch sei es eine eingespielte Truppe, die ihre Arbeit gerne mache. Das bestätigt auch Raghad Tamr. Die junge Frau hilft immer mittwochs in der Tafel aus. „Ich liebe das Team, wir sind alle sehr aktiv und arbeiten gut miteinander. Ich freue mich immer, wenn Mittwoch kommt.“ Es sei kein Mitleid gegenüber den Tafelkunden, was die Ehrenamtlichen antreibt, sondern Mitgefühl. „Das ist ein Unterschied“, sagt Marion Hahn. „Es ist eine Begegnung auf Augenhöhe.“