Gevelsberg/Ennepetal/Schwelm. Sexualaufklärung steht im digitalen Zeitalter vor neuen Herausforderungen. Worauf es heute ankommt und was die Jugendlichen bewegt.

Jan ist 15 Jahre alt und schon seit einiger Zeit mit seiner ersten festen Freundin zusammen. Die beiden fühlen sich langsam bereit für ihr erstes Mal. Doch jetzt steht Jan im Drogeriemarkt vor den Packungen mit Kondomen und ist sich unsicher: „Welche Größe ist denn überhaupt die richtige für mich?“ Seine Freundin Anna macht sich hingegen ganz andere Sorgen: „Tut es wohl weh, Sex zu haben?“ In ihrem Freundeskreis ist sie die erste mit einem Freund, da kann sie niemanden fragen.

Anna und Jan sind nicht real – die Fragen, die sie beschäftigen, allerdings schon. Denn so wie den beiden geht es vielen Schülerinnen und Schülern in Ennepetal, Gevelsberg oder Schwelm. Es sind Fragen, die sie sich oft nicht trauen, im Sexualkundeunterricht zu stellen. Aber wie werden die Jugendlichen überhaupt aufgeklärt? Vor welchen Herausforderungen steht die Sexualaufklärung in der heutigen Zeit? Und warum ist das im Jahr 2024 überhaupt noch ein Thema?

WHO schlägt Alarm

Eine Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sorgte kürzlich für viel Aufsehen. Darin ist von „hohen Raten ungeschützten Geschlechtsverkehrs bei Jugendlichen in ganz Europa“ die Rede. Die Befragungen wurden von 2021 bis 2022 durchgeführt. Die WHO schlägt Alarm, der Kondomgebrauch sei unter Jugendlichen seit 2014 stark zurückgegangen.

Die damit verbundene Gefahr von mehr Geschlechtskrankheiten, ungewollten Schwangerschaften und Abtreibungen unter Minderjährigen führt die WHO auf Lücken in der Sexualaufklärung zurück. Aber ist auch unsere Jugend in Deutschland, im EN-Südkreis weniger aufgeklärt als früher? „Nein“, lautet die klare Antwort von Antonina Pizzuto, Sexualpädagogin der „Pro Familia“ in Schwelm. Sie geht in die Schulen im gesamten EN-Südkreis und leistet Aufklärung über den normalen Sexualkundeunterricht hinaus. Zusätzlich bietet „Pro Familia“ Beratungen zu Schwangerschaftsabbrüchen an. Weniger als zwei Prozent im Jahr 2023 betrafen davon Minderjährige. Der Wert sei im Vergleich zu den Vorjahren stabil niedrig geblieben.

Und auch bei sexuell übertragbaren Krankheiten schätzt sie das Risiko bei den Minderjährigen gering ein: „Man kann sich ja nur bei dem Partner anstecken. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich mit 14, 15 oder 16 Jahren schon an einen erfahrenen Partner mit wechselnden Beziehungen gerate, ist gering.“ Die meisten würden sich in ihren eigenen Alterskreisen bewegen, wenn es um die ersten sexuellen Erfahrungen geht. Trotzdem sei es wichtig, frühzeitig über Geschlechtskrankheiten aufzuklären, damit sich die Jugendlichen vor allem für das spätere Leben der Gefahren bewusst sind.

Antonina Pizzuto ist die Leiterin des Teams für Schwangerenberatung im Pro Familia-Standort in Schwelm.
Antonina Pizzuto ist Sexualpädagogin bei „Pro Familia“ in Schwelm. Als Youthworkerin geht sie in die Schulen im EN-Südkreis, um bei der Sexualaufklärung zu unterstützen. © Alisa Schumann | Alisa Schumann

Die Ergebnisse der WHO-Studie erregten viel Aufmerksamkeit, allerdings, so Antonina Pizzuto, müsse man bedenken, dass es nur ein Durchschnittswert aus ganz Europa sei. In anderen Ländern, wie in England, seien die Missstände, besonders was die ungewollten Schwangerschaften bei Jugendlichen angehe, deutlich höher.

Deutsche Studie zeichnet anderes Bild

Die aktuellste Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), die 2020 veröffentlicht wurde, zeichnet ein gegensätzliches Bild zur WHO-Studie. Die Nutzung von Kondomen bei 14- bis 17-Jährigen lag 2019 bei 77 Prozent für den ersten, und 78 Prozent für den zweiten Geschlechtsverkehr und somit noch einmal einige Prozentpunkte über dem Vergleichswert aus 2014.

Ein rückläufiger Trend zeichnet sich hingegen bei der Benutzung der Pille als Verhütungsmittel ab. 15 Prozent weniger Mädchen gaben an, die Pille beim ersten Mal genutzt zu haben. Jugendliche setzen sich heute kritischer mit hormoneller Verhütung auseinander. Das sei auch gut so, findet Antonina Pizzuto. „Gleichzeitig ist die Antibabypille aber ein sehr sicheres Verhütungsmittel. Wenn man darauf verzichtet, ist eine sichere Anwendung der Kondome noch viel wichtiger.“

Sexualkundeunterricht in den Schulen

Dass die Lage in Deutschland im Vergleich zu Europa deutlich besser aussieht, führt Antonina Pizzuto unter anderem auf die institutionelle Etablierung des Sexualkundeunterrichts in den Schulen zurück. Das sei in anderen Ländern längst nicht so selbstverständlich wie hier. Der Sexualkundeunterricht ist ein verpflichtender Teil des Curriculums der deutschen Schulen. Bereits in den Grundschulen wird Körperwissen vermittelt. Auf den weiterführenden Schulen findet er in der Regel zweimal statt. Meistens in der 5. oder 6. Klasse und dann erneut in der 8. oder 9. Klasse.

Verhütungsmittel und der richtige Umgang damit seien ein großes Thema in den Unterrichtseinheiten. Die meisten wüssten, was ein Kondom ist, würden aber die richtige Anwendung noch nicht kennen. Und genau das wird im Unterricht geübt. „Ziel ist es, dass jeder Schüler und jede Schülerin einmal ein Kondom in der Hand hat und über einen Übungsdildo zieht. Damit sollen Hemmungen abgebaut werden“, erzählt eine Gevelsberger Lehrerin.

„Die Qualität des Sexualkundeunterrichts ist sehr Lehrer-abhängig.“

Antonina Pizzuto
Sexualpädagogin der „pro familia“

Sie findet, ebenso wie eine Ennepetaler Kollegin, dass der Sexualkundeunterricht an sich gut aufgebaut ist und einen wichtigen Teil der Aufklärung Jugendlicher darstellt. Antonina Pizzuto betont: „Die Qualität ist auch sehr Lehrer-abhängig.“ Den gesamten Bedarf an Aufklärung kann und soll der Unterricht ohnehin nicht abdecken, weshalb vor allem das Elternhaus mit in der Verantwortung steht.

Die Herkunft spielt eine Rolle

Wie gut die Sexualaufklärung über die Eltern läuft, variiert jedoch enorm. Einer der wichtigsten Faktoren, ob die Eltern für ihre Kinder eine Bezugsperson für sexuelle Fragen darstellen, ist laut der BZgA-Studie die Herkunft der Familien. 70 Prozent der Mädchen deutscher Herkunft gaben ihre Mutter als wichtige Bezugsperson an. Bei Mädchen mit Migrationshintergrund hingegen nur 43 Prozent. Bei den Jungen mit Migrationshintergrund sind die Werte noch geringer. Nur 27 Prozent gaben hier den Vater als Ansprechpartner an, nur 17 Prozent können mit ihrer Mutter darüber sprechen.

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Gerade dort ist der Unterricht an den Schulen demnach besonders wichtig. Lehrer werden hier, direkt nach den besten Freunden, als wichtigste Bezugspersonen für die Sexualaufklärung angegeben. Antonina Pizzuto gibt zu bedenken, dass gleiches für deutsche Kinder gelten könne, die in sehr christlichen Haushalten aufwachsen, in denen Sex oft immer noch ein Tabuthema ist.

Neue Herausforderungen in der Aufklärung

Einen wichtigen Baustein für die Sexualaufklärung sieht Antonina Pizzuto in der Vermittlung von Medienkompetenz. Durch das Internet und die sozialen Medien sind Kinder heutzutage viel früher und häufiger mit den Themen Sex, Pornografie und auch Gewalt konfrontiert. „Es können immer mehr Kinder zum Thema Pornos oder expliziten Inhalten im Netz etwas sagen“, beobachtet auch die Lehrerin aus Ennepetal. Das sei früher nicht so gewesen.

„Es können immer mehr Kinder zum Thema Pornos etwas sagen.“

Lehrerin für Sexualkunde aus Ennepetal

Antonina Pizzuto: „Die Jungs haben teilweise noch nicht mal ein Mädchen geküsst, aber schon ganz viele Bilder im Kopf, mit falschen Vorstellungen, was sie beim Sex machen müssen.“ Sie spreche dann offen mit den Schülern darüber, was daran echt ist und was nicht. „Wenn man so jung ist, hat man keinen Vergleich und denkt, das ist die Realität.“

Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen

Tendenziell seien Mädchen reifer und würden mit den Themen rund um Sex und Verhütung sachlicher umgehen, da sind sich Lehrerinnen und Sexualpädagogin einig. „Bei den Jungs wird mehr gekichert und gelacht, sie hören aber trotzdem aufmerksam zu“, sagt Antonina Pizzuto. Wenn sie in die Schulen kommt, bietet sie die Möglichkeit zur anonymen Fragerunde an. Dinge, die sich Jugendliche wie Anna und Jan aus unserem Anfangsbeispiel fragen, aber oft nicht trauen laut auszusprechen, können sie hier loswerden.

Bei den Mädchen drehen sich die Fragen, die Antonina Pizzuto von den eingereichten Zetteln abliest und dann mit allen bespricht, vorrangig um das erste Mal. Ob es wehtut, ob man immer dabei blutet, woher man weiß, ob man bereit dafür ist. Der Klassiker unter den Jungs sei seit jeher die Frage nach der optimalen Penisgröße und welche Rolle diese für den Geschlechtsverkehr spiele. Auch hier räumt die Sexualpädagogin oft mit einigen Mythen auf: „Deshalb ist es auch so wichtig, die Jugendlichen gut über die Körpervorgänge zu informieren.“