Schwelm. Aggressivität, ADHS, Gedächtnisprobleme: Für Alkohol in der Schwangerschaft bezahlen Kinder lebenslang. Tim ist einer von vielen Betroffenen.

Tim Puffler ist gerade mal drei Wochen alt, als er von Monika Reidegeld und ihrem damaligen Ehemann adoptiert wird. Für die beiden ist es der zweite Sohn, der das Familienglück perfekt machen soll. Niemand ahnt zu dem Zeitpunkt, dass mit Tim irgendetwas nicht stimmen könnte. Bis drei Jahrzehnte später endlich die erlösende Diagnose kommt, mussten Mutter und Sohn viel Leid durchstehen. In einem gemeinsamen Buch haben sie ihre Erfahrungen mit dem Fetalen Alkoholsyndrom verarbeitet und wollen andere Menschen aufklären. Mitte Oktober kommen beide für eine Lesung nach Schwelm.

Ein langer Leidensweg

„Der Tim hat als Baby kein Blickkontakt zu mir aufgenommen.“ Es ist damals das erste Anzeichen für Monika Reidegeld, dass ihr Sohn irgendwie anders ist. Anders als die anderen Kinder, die sie kennt. Anders als ihr älterer Sohn. „Wenn ich in sein Zimmer kam oder rausging, löste das keine Emotionen bei ihm aus“, erinnert sich die heute 73-Jährige zurück. Es zeigten sich immer mehr Entwicklungsverzögerungen bei Tim: „Er saß spät, lief spät, sprach kaum.“ Dinge, die Monika Reidegeld für autistische Züge hielt und sie um Tims zweiten Geburtstag herum, in eine Kinderklinik für Tests und Untersuchungen führte. Dort wurde zum ersten Mal auch der Verdacht geäußert, es könne sich um eine Alkoholembryopathie handeln.

Mit diesem sperrigen Begriff konnte Monika Reidegeld nichts anfangen. Als der Arzt ihr mitteilte, dass sich Tim ab einem gewissen Punkt gar nicht mehr weiterentwickeln würde, war sie geschockt. Offiziell bestätigt wurde dieser Verdacht lange nicht. Auch der Kinderarzt meinte: „Manche entwickeln sich langsamer, geben Sie ihm Zeit.“ Informationen waren vor über 40 Jahren rar. „Wir waren einfach nicht genug aufgeklärt, wussten nicht, was wir tun sollen“, erklärt Monika Reidegeld rückblickend, warum dem Verdacht nicht weiter nachgegangen wurde. Und Tim entwickelte sich doch immer weiter – allerdings nicht ohne Probleme.

So macht sich FASD bemerkbar

Das Fetale Alkoholsyndrom ist eine angeborene Behinderung, die nicht heilbar ist. Ausgelöst wird sie durch den Konsum von Alkohol während der Schwangerschaft. Als typische Merkmale beschreibt Monika Reidegeld, dass Betroffene sich Dinge nicht merken können, einen eingeschränkten Realitätsbezug, keine Handlungs- oder Planungsfähigkeiten haben. Sie wären auch leicht durch andere Menschen beeinflussbar, hätten eine blühende Fantasie, keine Impulskontrolle und die überwiegende Mehrheit sei aggressiv. Letzteres sei bei ihrem Sohn glücklicherweise nicht der Fall. Aus ihrem Bekanntenkreis und aus Selbsthilfegruppen kenne sie aber auch sehr drastische Fälle.

Schon kleine Mengen Alkohol in der Schwangerschaft können das Kind gefährden. (Symbolbild)
Schon kleine Mengen Alkohol in der Schwangerschaft können das Kind gefährden. (Symbolbild) © Getty Images/iStockphoto | vadimguzhva

ADHS sei eine häufige Begleiterscheinung. Auch körperliche Auffälligkeiten gehören dazu. Bestimmte Gesichtsmerkmale, wie eine schmale Oberlippe, seien typisch. Bei Tim ist darüber hinaus der Oberkörper zu lang im Vergleich zu seinen Beinen. Je nachdem, wie viel in der Schwangerschaft getrunken wurde, können auch Organschäden bei den Kindern auftreten.

Mit der Pubertät beginnt eine schwere Zeit

In der Schule wurde Tim Puffler, heute 44 Jahre alt, oft gemobbt. „Weil ich anders bin“, wie er selbst erzählt. „Ich konnte schlecht rechnen, mich schlecht konzentrieren, habe Dinge nicht so gut verstanden, wie die anderen.“ Mit einem Klischee will er aber aufräumen: „Ich war nicht immer nur das böse Kind.“ Seine Mutter gibt ihm recht: „Kein böses Kind, aber in der Pubertät hat er schon sehr über die Stränge geschlagen.“ Er habe sich an gar keine Regeln mehr gehalten, zwei Ausbildungen angefangen und abgebrochen, sei auch aus dem Zivildienst abgehauen.

„Ich war nicht immer nur das böse Kind.“

Tim Puffler
Wurde mit FASD geboren

„Kein Versuch, ihn auf eigene Beine zu stellen, hat funktioniert“, erklärt Monika Reidegeld. Während sie arbeiten ging, hing ihr mittlerweile erwachsener Sohn den ganzen Tag Zuhause vor dem Fernseher, rührte im Haushalt keinen Finger. Einmal habe er 2500 Mark vertelefoniert. Das Fass zum Überlaufen brachte aber, dass ihr Sohn hinter ihrem Rücken ihren ganzen Schmuck versetzte. „Ich konnte nicht mehr“, erzählt die 73-Jährige offen. Sie brauchte Abstand. „Ich hätte ihn aber nie auf die Straße gesetzt“, betont sie. Tim zog zu seinem Adoptivvater, aber auch dort lief es nicht besser.

Eine Zeit lang gab es keinen Kontakt mehr zu den Eltern, dann nur unregelmäßig ein paar Mal im Jahr. „Es gab viele Differenzen, weil die sich immer in mein Leben eingemischt haben und ich das Gefühl hatte, die wollen mich kontrollieren“, erklärt Tim. „Die haben gesagt: ‚Gucken wir mal, wie weit du kommst.‘ – Ich kam nicht weit.“ Denn er landete für drei Monate im Gefängnis. Laut seiner Mutter wurde er von einem Bekannten zu einer Spritztour überredet. Dass das Auto geklaut war, habe Tim nicht gewusst. Da er seinen Eltern von der Geldstrafe nichts erzählte, und nach zwei Raten nicht mehr zahlte, landete er letztendlich hinter Gittern.

Endlich eine gesicherte Diagnose

Durch die Amtsärztin stand erneut der Verdacht im Raum, dass Tim möglicherweise an FASD, dem Fetalen Alkoholsyndrom, leiden könnte. Diesmal wollte Monika Reidegeld endlich die Gewissheit, was mit ihrem Sohn genau los ist. An der Charité in Berlin, der einzigen Anlaufstelle, die FASD auch noch im Erwachsenenalter diagnostiziert, erhielten Mutter und Sohn nach 32 Jahren endlich die langersehnte Antwort schwarz auf weiß.

„Ich war schon eine Zeit lang richtig sauer auf sie“, sagt Tim Puffler über seine biologische Mutter. Er hätte sie gerne gefragt, warum sie in der Schwangerschaft getrunken hat. Heute habe er damit abgeschlossen: „Die Frage nach dem Warum kriege ich ja sowieso nicht beantwortet.“ Für seine Adoptivmutter war es eine große Erleichterung. Mit der offiziellen Diagnose konnten sie eine Pflegestufe und einen Schwerbehindertenausweis beantragen. Tim lebt heute im Betreuten Wohnen, hat einen gesetzlichen Betreuer und geht dreimal die Woche in eine Tagesstätte. „Mit diesem Paket an Unterstützung bin ich sehr zufrieden“, erzählt Tim Puffler. Er wisse aber auch, dass es ohne wieder radikal schlechter werden würde.

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Die Beziehung zwischen Mutter und Sohn hat sich danach enorm verbessert. „Jetzt machen wir nur noch die schönen Dinge zusammen“, hat Monika Reidegeld damals zu ihrem Sohn gesagt. Durch Fahrradtouren und Urlaube haben sich die beiden wieder angenähert. Auf Tims leibliche Mutter verspürt sie keine Wut. „Sie wird ihre Gründe gehabt haben. Ich verurteile niemanden.“ Auch durch ein gemeinsames Buch, in dem beide zusammen ihre Geschichte erzählen, haben sie ihre Vergangenheit aufgearbeitet und wollen heute Aufklärung leisten. Das sei ihrem Sohn noch wichtiger, als ihr selbst, sagt Monika Reidegeld.

Wichtige Aufklärungsarbeit

Schätzungen, wie viele Menschen in Deutschland vom Fetalen Alkoholsyndrom betroffen sind, bewegen sich zwischen 850.000 und 1,5 Millionen. Eine offizielle Statistik gibt es nicht. Monika Reidegeld betont, dass es oft keine Absicht der Mütter sei. Viele würden im Anfangsstadium der Schwangerschaft trinken, wenn sie noch nichts davon wüssten. Auch Süßigkeiten oder Medikamente, die Alkohol enthalten und unbewusst konsumiert würden, könnten schon ausreichen. Tim Puffler, der neben dem Buch auch mit einem eigenen YouTube-Kanal Aufklärungsarbeit leistet, wünscht sich für die Zukunft, „dass keine einzige Frau mehr während der Schwangerschaft trinkt“. Ein unrealistisches Ziel – das sei ihm bewusst. Aber er will versuchen, wenigstens einen kleinen Teil dazu beizutragen.

Monika Reidegeld und Tim Puffler lesen aus ihrem Buch „Tim - Ein Leben mit dem Fetalen Alkoholsyndrom“ am 15. Oktober 2024 um 17 Uhr in der August-Bendler-Straße 12 in Schwelm. Eine telefonische Anmeldung beim Suchthilfezentrum der Caritas ist erforderlich unter 02336 9242540.