Dortmund. Über Jahre entwickelte sich Dortmund zu einer Hochburg für Neonazis. Wie kam es dazu? Über die Anfänge mit „SS-Siggi“ und den berüchtigten „Nazi-Kiez“.
Aufmärsche, Gewalttaten, sogar Morde: Dortmund galt jahrelang als Hochburg der rechtsextremen Szene in Westdeutschland. Die Szene besteht fort, auch wenn in jüngerer Vergangenheit der Wegzug vieler Mitglieder zu beobachten ist. Warum etablierten sich Strukturen wie der berüchtigte „Nazi-Kiez“ in Dorstfeld ausgerechnet hier?
Lukas Schneider von der Beratungsstelle U-Turn hat sich intensiv mit der lokalen Neonazi-Szene beschäftigt. „Zu Beginn braucht es einfach ein paar besonders engagierte Personen“, erklärt Schneider, „dann ziehen Leute von außerhalb dazu und es verselbstständigt sich“.
Dortmunds Nazis organisierten und etablierten sich seit den 1980ern
Sehr engagiert war Siegfried Borchardt, in der Szene „SS-Siggi“ genannt. Der mittlerweile verstorbene Borchardt war Anfang der 1980er-Jahre in der FAP („Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei“) aktiv, gab aber auch in der rechten Dortmunder Hooligan-Gruppe „Borussenfront“ den Ton an.
Wie sich Dortmunds Neonazis organisierten, habe sich mit den Jahren verändert, so Schneider – abhängig vom politischen Klima und von der Verfolgung durch die Polizei. „Es gab eine Phase, die stark von Kameradschaften rund um die Band Oidoxie geprägt war“, nennt der Experte ein Beispiel. Die Rechtsrocker bekannten sich in den 90ern zur militanten Organisation „Combat 18“; als der polizeiliche Druck gegen diese zu groß wurde, habe sich die Dortmunder Szene wieder verstärkt der Parteipolitik zugewandt.
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Wiederholt konnten Rechtsextreme in Dortmund ihre Treffpunkte etablieren, etwa das sogenannte „Nationale Zentrum“ an der Rheinischen Straße, später im sogenannten „Nazi-Kiez“ in Dorstfeld an Emscher- und Thusneldastraße. Wie ist das gelungen? „Die Szene hat es hier geschafft, Immobilien über einen langen Zeitraum zu besitzen und zu verwalten“, sagt Schneider.
„Nazi-Kiez“ Dorstfeld: Soziale Kontrolle durch Raumkampf
Diese Infrastruktur erleichterte den Zuzug Gleichgesinnter: „Leute von außerhalb konnten gleich untergebracht werden.“ Den davon ausgehenden Reiz vergleicht Lukas Schneider mit besetzten Häusern in Berlin: „Man lebt nach gewissen Idealen und Vorstellungen zusammen, empfindet für sich einen Schutz.“
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Und es gelang, auch nach außen sichtbarer zu werden und sich im Stadtteil zu verankern. Für diesen Prozess wurde der Begriff Raumkampf geprägt. Schneider: „Es geht darum, soziale Kontrolle über Räume zu erlangen.“ Ziel sei es, Angsträume für Andersdenkende zu schaffen und gleichzeitig die Anwesenheit der Nazis als Normalzustand zu etablieren: „Die Leute sollen sagen: ‚Das ist der Nazi-Stadtteil, der gehört halt zu dieser Stadt.‘“ Zur Einschüchterung hängten Rechtsextreme unter anderem Plakate mit unmissverständlichen Drohungen auf.
Zudem hätten sich die Nazis als Sozialarbeiter und Kümmerer im Stadtteil inszeniert und so versucht, mit der Bevölkerung in Kontakt zu treten. „Das hat natürlich auch eine gewisse Akzeptanz erwirkt“, so Schneider.
1. Mai 2009: Nazi-Angriff auf Kundgebung war ein Wendepunkt
In der Stadt sei das Neonazi-Problem lange Zeit nicht ausreichend thematisiert worden. Dass seit einigen Jahren konsequent durchgegriffen wird, habe viel mit dem 1. Mai 2009 zu tun. An diesem Tag griffen Nazis die jährliche Kundgebung der Parteien und Gewerkschaften an – „in einer sozialdemokratischen Stadt wie Dortmund quasi der offene Angriff aufs Establishment“, ordnet Lukas Schneider ein.
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Seitdem habe sich der Handlungsspielraum der Szene massiv verkleinert, auch weil es mit Gregor Lange einen Polizeipräsidenten gibt, der entschlossen gegen diese vorgehe: „Es ist einfach eine andere Situation, wenn sie ständig damit rechnen müssen, dass ihnen die Tür eingetreten und die Wohnung durchsucht wird.“
Die Bilanz seit 2015 nach Angaben der Polizei Dortmund: mehr als 100 Verurteilungen, mehr als 35 Jahre Haft und über 60.000 Euro Geldstrafen haben Gerichte auf Basis von Ermittlungen der „Sonderkommission Rechts“ ausgesprochen. Allein im Jahr 2023 habe man rund 20 Haftbefehle gegen Rechtsextremisten erwirken können.
In diesem Klima sei schließlich auch der Widerstand in der Bevölkerung gestärkt worden. „Viele Leute haben sich damals allein gelassen gefühlt“, sagt Lukas Schneider. Heute wüssten die Menschen in Dortmund und speziell in Dorstfeld, dass sie mit dem Strom schwimmen – eine Entwicklung, die Sicherheit gebe.
Zur Entwicklung der Neonazi-Szene in Dortmund hat die Beratungsstelle U-Turn die Broschüre „Dortmund Rechtsaußen – eine Bestandsaufnahme“ erarbeitet. Das Heft kann auf der Internetseite des Projekts heruntergeladen werden: www.u-turn-do.de