Hagen. Die Stadt weiß viel mehr zur Hochwasser-Lage in Hagen als sie den Bürgern verrät. Auf den Zentimeter genau. Das Schweigen hat Gründe.

10. Etage im Hagener Verwaltungshochhaus. Am Tisch: Sebastian Arlt, zu diesem Zeitpunkt noch Umweltdezernent der Stadt Hagen, bevor er Direktor des EN-Kreises wird, Thomas Köhler, Leiter des Umweltamtes, und Heike Thurn, Leiterin der Unteren Wasserbehörde. „Schauen Sie mal“, sagt jene Heike Thurn und fährt mit ihrem Finger über ein Tablet. Eine Luftansicht der Volme in Dahl erscheint. Sie ist über die Ufer getreten, in Nebenstraßen geflossen. Die Animation zeigt, wie tief sie an manchen Stellen ist und wie hoch dort ihre Fließgeschwindigkeit ist. Bis auf den Zentimeter ist sichtbar, wo das Wasser stoppt und wo es eindringt.

Modellierung einer Hochwasserlage im Hagener Ortsteil Dahl. Die Darstellung zeigt die unterschiedlichen Fließgeschwindigkeiten des Flusses, seine Tiefe und die Stellen, Straßen und Wege, bis zu denen er überlaufen wird.
Modellierung einer Hochwasserlage im Hagener Ortsteil Dahl. Die Darstellung zeigt die unterschiedlichen Fließgeschwindigkeiten des Flusses, seine Tiefe und die Stellen, Straßen und Wege, bis zu denen er überlaufen wird. © Unbekannt | Stadt Hagen

Die drei Führungskräfte der Hagener Verwaltung haben eingeladen. Um zu zeigen, was man nicht so ohne Weiteres frei ins Internet stellen kann. Weil es ohne ergänzende Erläuterung falsche Begehrlichkeiten weckt, falsche Erwartungen. Weil es Ängste schüren kann, weil es Versicherungen auf den Plan rufen könnte, ganz einfach, weil falsche Schlüsse gezogen werden können.

Die „grafische Modellierung“, wie die drei es nennen, ist für die Stadt über ein Ingenieurbüro abrufbar. „Wir arbeiten daran, die Informationen öffentlich zugänglich zu machen und durch meteorologische Lageberichte und aktuelle Pegelstände und Niederschlagsmessungen zu ergänzen. Hieraus ergibt sich dann ein umfassendes Bild zur Vorbereitung auf zukünftige Ereignisse“ wirft Thomas Köhler einen Blick in die Zukunft.

Gefahren und Risiken

Man kennt die Hochwasser-Lage mittlerweile viel genauer als das in der breiten Öffentlichkeit bekannt ist – man kann es nur derzeit nicht jederzeit öffentlich zeigen. Der technische Fortschritt schwappt – um mal im Flutbild zu bleiben – zudem noch lange nicht auf die geläufige Verwaltungspraxis über. Das birgt Gefahren und Risiken.

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„So soll in der Bauleitplanung beispielsweise immer von einem sogenannten „HQ 100“ ausgegangen werden“, sagt Sebastian Arlt. Und Thomas Köhler präzisiert: „Ein HQ 100 ist ein Hochwasserereignis, das statistisch gesehen einmal in 100 Jahren erreicht oder überschritten wird.“ Das Problem: Für das Jahrhunderthochwasser vom 14. Juli 2021 reichte die Klassifizierung bei Weitem nicht aus. Streng genommen handelte es sich um ein „HQ größer 100“, das aber in den Handlungsleitfäden von Verwaltungen keine Rolle spielt.

20 Jahre lang nachrangig behandelt

Auf welcher Grundlage also soll in Schutzzonen oder in Flussnähe Bauen gestattet werden in Hagen? Das bisherige und in der Theorie angenommene Jahrhundertereignis ist kein Jahrhundertereignis mehr. Die Realität hat gezeigt, dass es sogar übertroffen werden kann. „Unser Ziel ist ein bestmöglicher Schutz der Stadt, unabhängig von statistischen Betrachtungen“, bringt es Heike Thurn auf den Punkt. Die Sensibilität im Hagener Rathaus für den Hochwasserschutz ist enorm gestiegen. Dass dieses Thema vor zehn oder 20 Jahren absolut nachrangig betrachtet wurde, daraus macht Umweltamtsleiter Thomas Köhler keinen Hehl.

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Neben neuen technischen Möglichkeiten, Überflutungen zu modellieren stehen drei weitere Kernfragen im Zentrum des Handeln. Erstens: Wie kann durch Retention die Dynamik aus den Hagener Gewässern genommen werden und wie kann das Hochwasser möglichst schadlos abgeführt werden? Zweitens: Wie kann der private Objekt- und Häuserschutz noch stärker begleitet und angeregt werden?

Und drittens: gutes Krisenmanagement. Vor allem der Objektschutz werde von vielen Flussanrainern in Hagen stiefmütterlich behandelt. „Nur mit dem Finger auf die Stadt zu zeigen, das reicht nicht aus“, sagt Sebastian Arlt. „Jeder Flussanwohner ist in der Pflicht, selbst auch für den Schutz seines Objektes zu sorgen. Das ist nicht Aufgabe der Stadt. Aber die Stadt steht für eine Beratung zur Verfügung.“

Die kritische Infrastruktur

Unterdessen sind 25 Prozent der Stützmauern in Hagen noch nicht repariert, was wiederum nicht immer eine städtische Aufgabe ist. Arlt wundere sich dennoch, dass es in NRW keine flächendeckende, verpflichtende Elementarversicherung gebe. „Das ist ein Thema, was angesichts drohender Hochwasserlagen in der Zukunft politisch dringend angegangen werden sollte.“ Generell gelte mit Blick auf künftige Hochwasserlagen, dass die Stadt zudem ganz besonders auf die kritische Infrastruktur blicke. „Ausfälle an einer Stelle können an einem ganz anderen Punkt im Stadtgebiet für Schwierigkeiten sorgen“, sagt Thomas Köhler. Das beim Jahrhunderthochwasser geflutete Rechenzentrum der Stadt ist so ein Beispiel.

Spundwände eine Option

Das ist eine veränderte Sichtweise. Hochwasserschutz war Jahrzehnte eine reine Betrachtung der flussnahen Lagen. „Heute geht es eben auch um Auswirkungen in weiter entfernt liegenden Bereichen“, beschreibt Thomas Köhler diesen anderen Fokus. Zuletzt wurden Gedankenspiele zu erhöhten Spundwänden in der Innenstadt laut (diese Zeitung berichtete). „Sie sind rechtlich nicht notwendig“, sagt Thomas Köhler. Durchaus aber Teil der Volme-Betrachtung in der Innenstadt mit Blick auf Hochwasserlagen.

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Und noch wichtiger für die kommende Zeit: Retentionsflächen. Solche Areale also, die der Fluss kontrolliert überfluten kann. Zwei davon konnte die Stadt sich bereits sichern. In der Laake in Delstern und eine Fläche in der Obernahmer. Weitere werden gesucht. Wer flussnahe Flächen besitzt und sie der Stadt, zur Erstellung einer Retentionsfläche, zur Verfügung stellen möchte, kann sich wenden an heike.thurn@stadt-hagen.de.